FLINTA*, PRIDE, NAHAUFNAHME

Sexualisierte Gewalt bei Princess Charming—Transformative Gerechtigkeit als Perspektive?

by HÉLOISE MARKERT

Foto: Anete Lusi­na

09/12/2022

TW: Sexualisierte Gewalt

Princess Charm­ing war für viele von uns wertvoll. Es war Repräsen­ta­tion. Es war das Gefühl, dass unsere Stim­men gehört wer­den. In der zweit­en Staffel ging bere­its ein großer Teil der Aufk­lärung ver­loren, dann ereignete sich ohne vorherige Trig­ger­war­nung und ohne eine angemessene Einord­nung danach ein sex­ueller Über­griff vor laufend­er Kam­era. Ein Kuss ohne Ein­ver­ständ­nis, obwohl vorher die Kan­di­datin über trau­ma­tis­che Ereignisse im Kon­text von Küssen berichtete. Das Ver­trauen war angekratzt. Wir fragten uns wie sowohl die Pro­duk­tion, als auch RTL, das zulassen kon­nte. Vor drei Monat­en veröf­fentlichte Frau Löwen­herz auf Youtube ein Video, in dem darüber gesprochen wird, wie bei Princess Charm­ing durch die Pro­duk­tion Trans­feindlichkeit repro­duziert wurde und sex­uelle Über­griffe nicht angemessen behan­delt wur­den. Dabei ver­wies Frau Löwen­herz auf zwei Kan­di­datin­nen, die sex­u­al­isierte Gewalt am Set von Princess Charm­ing erlebten. Dabei blieb es anonym, um wen es sich han­delte, unter anderem, da die bei­den durch Verträge zum Schweigen verpflichtet waren.

Eine der bei­den, Jo, meldete sich am 14. Novem­ber zu Wort und erzählte von dem sex­uellen Über­griff durch die Kan­di­datin Wiki während der ersten Staffel von Princess Charm­ing

An dieser Stelle gilt: uneingeschränk­te Sol­i­dar­ität mit Betrof­fe­nen sex­u­al­isiert­er Gewalt. Uneingeschränk­te Sol­i­dar­ität mit Jo.

Ich werde an dieser Stelle nicht aus­führlich darauf einge­hen, was geschehen ist. Dafür ist es bess­er das Video von Jo direkt auf Insta­gram anzuschauen (@edens_child) oder sich den Artikel auf Queer.de durchzule­sen. Hier soll es vielmehr darum gehen, was das alles mit der queeren Com­mu­ni­ty macht und wie wir von hier aus weit­erge­hen kön­nen. Natür­lich soll dies in kein­ster Weise Jo Raum absprechen. Es ist klar, dass sie am stärk­sten von dieser Sit­u­a­tion betrof­fen ist. Doch wie auch schon Frau Löwen­herz in ihren Insta­gram-Sto­ries klargemacht hat, geht es um eine zusät­zliche Perspektive. 

Wiki war eine Per­son, der viele von uns ver­traut haben. Sei es durch per­sön­lichen Kon­takt oder durch para­soziale Beziehun­gen über Social Media. Eine Per­son, die laut zu sein schien, mit den richti­gen Worten. Wiki beze­ich­nete sich selb­st als Kon­sens-Queen und machte im End­ef­fekt auch Kap­i­tal damit. Auch ich fol­gte Wiki auf Social Media, fand ihren Con­tent super wichtig und benei­dete sie, um ehrlich zu sein, auch manch­mal für ihre schein­bar freie und starke Energie. Als dann das Video von Jo das erste Mal in meinen Ins­ta-Sto­ries auf­tauchte, fühlte ich erst­mal nichts. Ich schaute es, teilte das Video und ent­fol­gte Wiki. Nach ein­er Weile fiel mir auf, dass ich immer wieder auf die Pro­file ver­schieden­er Men­schen aus der queeren Bub­ble klick­te, um zu schauen, ob sie sich posi­tion­iert haben und ob es neue Entwick­lun­gen gibt. Immer und immer wieder klick­te ich auch auf das Pro­fil von Wiki, um zu über­prüfen, wie viele Men­schen ihr noch fol­gen. Von 72 Men­schen, denen ich auf Insta­gram folge, sind es plöt­zlich nur noch 27. Das The­ma schien mich mehr mitzunehmen als mir klar war. Einen queeren Men­schen aus meinem Umfeld beschäftigte das The­ma so stark, dass plöt­zlich eigene trau­ma­tis­che Erin­nerun­gen an sex­uelle Über­griffe aufka­men. Mit ein­er anderen queeren befre­un­de­ten Per­son sprach ich auch kurz über “die Ereignisse bei Princess Charm­ing” und es war klar, dass wir das The­ma nicht weit­er ver­tiefen, da auch hier schon sex­u­al­isierte Gewalt in der Ver­gan­gen­heit stat­tfand. Viele Queers auf Insta­gram sprechen davon, wie sie von den Ereignis­sen getrig­gert sind. Viele waren mit Wiki befre­un­det. Da ist gebroch­enes Ver­trauen. In Bezug auf Wiki per­sön­lich, aber auch im größeren Rah­men. In den let­zten Tagen habe ich mich häu­fig bei dem Gedanken erwis­cht: “Wenn sog­ar die soge­nan­nte ‘Kon­sens-Queen’ Kon­sens nicht ein­hält — wer dann? Was kön­nen noch wirk­liche Safe Spaces sein? Wem kann ich ver­trauen?” Am Woch­enende möchte ich zum ersten Mal seit Ewigkeit­en wieder in den queeren Club Schwuz in Berlin gehen. Es ist nicht so, dass ich Angst habe, aber ich glaube, es wird auch nach­den­kliche Momente geben. Ein Innehal­ten. Ins­beson­dere auch nach dem queer­feindlichen Angriff in Col­orado, USA am 19.11.2022, bei dem 5 queere Men­schen umge­bracht wur­den. Wenn ich als weiße Cis-Frau mich schon so füh­le, wie soll es dabei queeren Trans-Men­schen und/oder PoC gehen, die sta­tis­tisch deut­lich häu­figer (sex­u­al­isierte) Gewalt erfahren?

Ein wichtiger Schritt für die queere Com­mu­ni­ty wird es sein, einen Umgang mit der Täterin Wiki zu find­en. Dabei ste­ht natür­lich an erster Stelle auf Jos Worte zu hören und uns daran zu ori­en­tieren. Trotz­dem kann es sin­nvoll sein, selb­st zu über­legen, was in dieser Sit­u­a­tion notwendig oder hil­fre­ich sein kön­nte und auf bere­its existierende Konzepte zu blick­en. Eins davon ist die trans­for­ma­tive Gerechtigkeit. Diese bein­hal­tet ver­schiedene Prak­tiken und Philoso­phien, die darauf aus­gelegt sind, die Gewalt unseres Jus­tizsys­tems zu umge­hen und eine nach­haltige Verän­derung der Struk­turen zu erschaf­fen. Denn sowohl die Betrof­fe­nen kön­nen mit dieser Gewalt kon­fron­tiert wer­den, als auch die Gewalt durch die Strafen repro­duziert wer­den kann. Häu­fig find­et gar keine Verurteilung statt und wenn doch, ist es häu­fig nicht hil­fre­ich für die betrof­fene Per­son und Ver­hält­nisse ändern sich nicht. Das Mis­sy Mag­a­zin beschäftigte sich in der Aus­gabe 02/2021 im bre­it­en Rah­men mit ver­schiede­nen Ideen radikaler Verän­derung. Dabei kam auch mehrmals die trans­for­ma­tive Gerechtigkeit auf und die fol­gen­den Infor­ma­tio­nen dazu wur­den daraus ent­nom­men. Es wurde eben­falls über die miss­glück­te Aufar­beitung sex­u­al­isiert­er Gewalt mit der Idee von Trans­for­ma­tive-Jus­tice beim Monis-Rache Fes­ti­val berichtet. Von eben diesen Fehlern ist es jet­zt möglich und notwendig zu ler­nen, um vielle­icht tat­säch­lich heil­same Prozesse sowohl für Jo, als auch für die queere Com­mu­ni­ty, anzustoßen. 

Abo­li­tion­is­tis­che Feminist*innen befür­worten im Umgang mit sex­u­al­isiert­er Gewalt den Trans­for­ma­tive-Jus­tice Ansatz, da dieser nicht wie unser Jus­tizsys­tem nur die Täter*innen in den Fokus rückt, son­dern den Blick auf die Betrof­fe­nen richtet. Das kann heißen: Was ist notwendig, um zu heilen? Braucht es Dis­tanz zur Täterin oder einen Prozess der Ver­ant­wor­tungsüber­nahme? Was braucht Jo? Doch gle­ichzeit­ig dein­di­vid­u­al­isiert trans­for­ma­tive Gerechtigkeit auch und fragt nach den struk­turellen Bedin­gun­gen, die Gewalt her­vor­brin­gen, und hat das Poten­zial, die gesamte Com­mu­ni­ty zu mobil­isieren und sen­si­bil­isieren. Es ist die Idee der Com­mu­ni­ty-Account­abil­i­ty, die viel Zeit und Ressourcen kosten kann, aber auch Poten­zial für Verän­derun­gen schafft. Denn ein fes­ter Bestandteil der trans­for­ma­tiv­en Gerechtigkeit ist die Tat­sache, dass Tat­en sex­u­al­isiert­er Gewalt immer vor einem gesellschaftlichen Hin­ter­grund stat­tfind­en. Deswe­gen ist es notwendig zu schauen, wo die Ursachen von Gewalt liegen. Wiki ist Täterin. Gegenüber Jo, aber auch viele andere in den Kom­mentaren unter Jos und Wikis Videos, sowie in eige­nen Ins­ta-Sto­ries, bericht­en über über­grif­figes Ver­hal­ten durch sie. Doch Wiki hat selb­st auch sex­u­al­isierte Gewalt in der Ver­gan­gen­heit erfahren. Im Kon­text dessen habe ich viele Kom­mentare gele­sen, die betont haben, dass das nichts entschuldigt. Das ist abso­lut richtig. Es entschuldigt nicht, aber es zeigt trotz­dem auf, warum trans­for­ma­tive Gerechtigkeit wichtig ist. Es ist in unser Gesellschaft nicht möglich sich außer­halb von Gewalt zu befind­en und viele Men­schen, die Täter*innen wer­den, haben selb­st in der Ver­gan­gen­heit Gewalt erfahren. So auch Wiki. Again, das soll nie­man­den aus der Ver­ant­wor­tung nehmen, doch wir bemerken dadurch, dass es notwendig ist, sich auf größer­er Ebene damit zu befassen. 

Wenn die queere Com­mu­ni­ty sich jet­zt ein­fach nur von Wiki abwen­det und bald alles vergessen wird, ist das möglicher­weise der falsche Ansatz. Stattdessen müssen bewusst Struk­turen für Betrof­fene erschaf­fen und Safer Spaces (re)kreiert wer­den. Es muss über­legt wer­den, wie der weit­ere Umgang mit Täter*innen ausse­hen kann. Trans­for­ma­tive-Jus­tice wurde von ver­schiede­nen Men­schen entwick­elt, exper­i­men­tiert und erprobt, die staatliche sowie inter­per­son­elle Gewalt erfahren haben. So wurde sich, auch pro­fes­sionell, sowohl auf juris­tis­ch­er, als auch psy­chol­o­gis­ch­er Ebene, mit The­men wie dem Straf­sys­tem, Täter*in-Betroffene*r Beziehungsstruk­turen und der Ver­ant­wor­tungsüber­nahme beschäftigt. Vor diesem Hin­ter­grund wurde eben­falls ver­sucht, Prozesse der trans­for­ma­tiv­en Gerechtigkeit nach den Monis-Rache Fes­ti­vals 2016 und 2018 zu starten, nach­dem ein Mitar­beit­er des links-alter­na­tiv­en Fes­ti­vals FLINTA auf den Toi­let­ten filmte und das Bild­ma­te­r­i­al auf Pornoplat­tfor­men teilte. Im Zuge der Aufar­beitung der sex­u­al­isierten Gewalt grün­dete sich auch die Gruppe FLINTA*ktion. Im Mis­sy Mag­a­zin reflek­tierten sie die ver­suchte Aufar­beitung, die “im Monis-Rache-Fall so grandios verkackt wurde.”1 Nach­dem die sex­u­al­isierte Gewalt beim Fes­ti­val bekan­nt wurde, entsch­ied die soge­nan­nte Erken­nt­nis­gruppe, dass ein Trans­for­ma­tive-Jus­tice Prozess mit dem Täter ges­tartet wer­den sollte. Dabei war ein großer Fehler, dass die Betrof­fe­nen selb­st nicht informiert wur­den und nicht mitentschei­den kon­nten. Ein Fehler, den wir jet­zt, im Kon­text von Princess Charm­ing, nicht wieder­holen dür­fen. Wie bere­its erwäh­nt, muss an erster Stelle Jo ste­hen und ihre Wün­sche im Umgang mit Wiki. Sollte sie sich dafür entschei­den, dass ein Aufar­beitung­sprozess sin­nvoll ist, muss eben­falls darauf geachtet wer­den, dass pro­fes­sionelle Hil­fe (wie Psycholog*innen) Teil des Teams ist. Auch das fehlte bei Monis-Rache. Genau­so sollte es, so FLINTA*ktion, für Betrof­fene möglich sein, Forderun­gen an den*die Täter*in zu stellen. Wie zum Beispiel an FLINTA Grup­pen Geld spenden. 

Was ist mit Wiki, die mit dem The­ma Kon­sens Geld ver­di­ente, obwohl sie damit Jo immer wieder den Raum als Betrof­fene aktiv genom­men hat? Genau­so ist die Frage nach Ther­a­pie rel­e­vant, die Wiki nach eige­nen Angaben zwar sucht, aber keinen Platz find­et. Was wieder zeigt, dass die gesellschaftlichen Struk­turen rel­e­vant sind. Einen weit­eren wichti­gen Punkt den FLINTA*ktion iden­ti­fizierte, ist die Bere­itschaft des*der Täter*in sich mit den eige­nen Tat­en auseinan­derzuset­zen. Im Fall des Monis-Rache Fes­ti­vals tat es der Täter nur von außen. Bei Wiki kön­nte das anders aussehen. 

Um ehrlich zu sein, habe ich Angst bei diesem Artikel. Angst, dass es so wirkt, als ob ich die Täterin in Schutz nehmen möchte, obwohl ich ver­sucht habe klarzustellen, dass das nicht meine Inten­tion ist. Angst, dass wir als queere Com­mu­ni­ty ähn­liche Fehler bei der Aufar­beitung machen, wie beim Monis-Rache Fes­ti­val geschehen sind, und Angst, wie es weit­erge­ht, wenn wir stattdessen gar nichts tun. Alles was ich jet­zt sagen kann ist, dass wir alles, was wir tun, in voller Sol­i­dar­ität und Absprache mit Jo tun sollten.


Ger­ade als ich den Artikel been­det habe, gehe ich auf Insta­gram. Ich sehe den neuen Post von Jo, die davon berichtet, dass viele Artikel nicht veröf­fentlicht wer­den, da RTL und die Pro­duk­tions­fir­ma Sea­point zu kein­er Aus­sage bere­it sind. Sie behaupten, dass sie das Aus­maß des “Vor­falls” nicht gekan­nt hät­ten, obwohl 24/7 Kam­eras laufen und am Tag danach der sex­uelle Über­griff klar benan­nt wurde. Youtuber*innen hören auf Prince*ss Charm­ing zu kom­men­tieren, Men­schen kündi­gen ihre Abos und ent­fol­gen auf Ins­ta. Trotz­dem müssen wir gemein­sam schauen, wie wir weit­er dage­gen vorge­hen kön­nen. Das denke ich, als ich auf den neuen Post von Sari­na (@sarinavyy) stoße. Darin berichtet sie von der sex­u­al­isierten Gewalt, die auch sie in der ersten Staffel von Princess Charm­ing erfahren hat. Auch wenn sie den Namen der Täterin nicht nen­nt, ist aus dem Kon­text klar, dass es sich dabei um Kati han­delt. Es wer­den noch zwei weit­ere Über­grif­fige Ver­hal­tensweisen von Kati während der Staffel benan­nt. Dabei wirft auch sie der Pro­duk­tion Fehlver­hal­ten vor. 

“Es ist irrel­e­vant, ob die pro­duk­tion von der besagten nacht etwas mit­bekom­men hat oder nicht. da zwei dieser vor­fälle aus­ges­trahlt wur­den, somit bekan­nt waren, hätte zumin­d­est der let­zte über­griff ver­hin­dert wer­den kön­nen. vielle­icht sog­ar auch der an mir.” 

Ich wieder­hole mich, aber es ist lei­der eine Wieder­hol­ung, die notwendig ist. Volle Sol­i­dar­ität mit Sari­na. Volle Sol­i­dar­ität mit Jo. Volle Sol­i­dar­ität mit allen Betrof­fe­nen sex­u­al­isiert­er Gewalt.

LEKTORIERT VON MACY RIPLEY.

Quellen

1 Mis­sy Mag­a­zine, Berlin 02/21. S.50–64 


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