LITERATUR, BERLIN
sich erfinden, sich verlieren
Eine Rezension zu Antje Rávik Strubels Fremd Gehen. Ein Nachtstück (S.-Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2017)
by Nika Pavot

25/01/2023
Antje Rávik Strubels Fremd Gehen. Ein Nachtstück, ein schmaler, eher wenig bekannter Band der Buchpreisträgerin 2021 lädt zum Träumen ein, zum Erfinden von Erzählungen und dazu, sich dem langsamen Lesegenuss guter Geschichten vollkommen hinzugeben.
Zwei Paare erfinden sich selbst in der Nacht:
Der Mathematik-Student Daniel Stillmann glaubt, aus dem Fenster seiner Kreuzberger Wohnung die Vertuschung eines Mordes zu beobachten. Bald stehen die Ereignisse in der Zeitung und der Vorfall lässt den nervösen, jungen Mann nicht mehr los. Der vermeintliche Täter, ein unscheinbarer, namenloser Alter, sucht immer wieder seine Nähe, meint, in ihm den lange verlorenen Sohn wiederzuerkennen.
“Er wußte, dass es nicht derselbe, nicht Kristian war, aber in der Erinnerung verschoben sich die Einzelheiten, die Zeit wurde dehnbar, so daß sich zwei Bilder auf merkwürdige Weise ineinanderschoben.”1
“Die Angst kam spät, aber als sie da war, füllte sie ihn so vollkommen aus, daß er sie nie wieder los wurde. Er lebte von ihr, weil sie ihn von innen stützte. Wäre sie verschwunden, dann wäre sein Körper einfach so zusammengesunken[.]”2
Beide aber, Angst und Sehnsucht, sind bloße Erfindungen, wie Leser*innen des Buchs Fremd Gehen von Antje Rávik Strubel bald feststellen. Denn Marlies, die oftmals tonangebende der beiden Frauen des zweiten Erzählstranges, diskutiert mit der Ich-Erzählerin über das schriftstellerische Vorgehen und die Ausarbeitung der ersten beiden Figuren. Sie wollen einen Krimi schreiben. Ihre theoretischen Vorhaben aber werden immer mehr zur Projektionsfläche der eigenen, und obgleich intimen, so doch vor allem unbestimmten Beziehung zueinander.
“Vielleicht schreibe ich nur, um meine Hände zu beschäftigen. Der Alte ist mein Alibi. Manchmal halte ich sie still und lege sie dicht nebeneinander, wie er, als könnte ich Marlies mit den Händen sehen.”3
Das klare Nebeneinander der beiden eng verbundenen Handlungsebenen scheint zu Beginn zu offensichtlich und einfach, verschwimmt im Laufe des Buchs aber immer stärker und spielt oszillierend mit unserer Wahrnehmung dessen, was wir als Realität bezeichnen. Denn plötzlich verschwindet Marlies, und die Frage, ob sie das Opfer des Mordes auf der anderen Seite der Geschichte ist, stellt sich ganz von selbst.
“Frauen wie sie können nur dasein oder tot.”4
Hochpoetisch und ohne jeden Kitsch zeichnet die Autorin sensibel das Bild einer Liebe, einer wahrhaftigen und zugleich vielleicht doch auch erfundenen Liebe. Wer hier aber wen erfunden hat, wer von wem berichtet, ob die beiden Paare einander wirklich begegnet sind oder Leser*innen diese geheimnisvollen Verknüpfungen nur auf Zufallsbildern aufbauen, bleibt unbeantwortet und steht am Ende vielleicht auch gar nicht mehr im Zentrum der Erzählung.
“Es wäre besser gewesen, sich vorher schon einmal vorgestellt zu haben, wie es wäre, wenn sie tot ist. Dann könnte ich mich jetzt der Illusion hingeben, das Rohe der Wirklichkeit gäbe es nur in meiner Vorstellung.”5
Vielmehr geht es um die Hintergründe und die Ethik des Erfindens: Warum erfinden wir Geschichten über uns selbst und worin unterscheiden sie sich von Lügen? Welche Erzählungen sind zulässig im echten Leben und welche verwerflich? Und weshalb empfinden auch wir Leser*innen in der Realität andere, erdachte Leben oftmals als solche, um die wir irgendwie betrogen werden? Oder ist es nicht so, dass wir uns, wenn wir ehrlich sind, auch ständig selbst um Möglichkeiten betrügen? Eine Antwort gibt Strubels Nachtstück nicht. Trotzdem zeigt sich neben souverän eingebauten gattungspoetischen und erzähltheoretischen Aspekten immer wieder, dass die Art, eine Geschichte zu erzählen, zwar eine Entscheidung ist, die Art, ein Leben zu leben aber von weit mehr abhängt.
Vielfach wird vielleicht auch deshalb nach Grenzen gefragt, literarischen Grenzen, geschlechtlichen Grenzen: Handelt es sich bei Fremd Gehen nun um einen Krimi oder eine Liebesgeschichte? Welche Formen der Liebe gibt es? Ist Liebe gar nicht nur ein Gefühl, sondern immer auch Erfindung? Wo liegt der Unterschied zwischen Freundschaft und Romantik, Nähe und Distanz und müssen Beziehungsformen überhaupt immer klar bezeichnet werden, um die Melancholie ihrer Enden zu verstehen?
“Der Abend war unser letzter, und hätte ich gewußt, daß es unser letzter war, ich hätte sie einfach in den Arm genommen und sie sehr lange und gegen jeden Widerstand geküßt.So kann ich nur versuchen, sie zu vergessen, indem ich schreibe, auch wenn ich weiß, daß Schreiben nur eine zweite, eine entsetzliche Möglichkeit des Erinnerns ist.”6
“Es ist so dunkel, als stünde ich freischwebend zwischen den Lichtern unten und dem Himmel. Es ist so dunkel, als gäbe es nichts mehr, das mich hielte[.]”7
Das Dunkel der Nacht löst die Daseinsgrenzen der Figuren auf und lässt Fragen zurück. Die Geschichten werden dem Titel des Buchs, Fremd Gehen, auf unerwartete Weise gerecht. Jede der vier Figuren verliert sich in der eigenen Erzählung, reflektiert den ganz persönlichen Realitätsverlust zwar und versteht auch die eigene Konstruiertheit, kommt aber von der Möglichkeit eines ganz anderen, erdachten Lebens nicht los. Und wird sich auf diese Weise fremd in der Nacht.
“[M]an kann nicht am eigenen Spiegelbild vorbeigucken. Man sieht immer nur wieder sich selbst. Hier im Dunkeln ist nicht mal die schwächste Kontur meines Gesichtes in der Fensterscheibe zu sehen. Es ist, als wäre ich nicht da.”8
LEKTORIERT VON CLEMENS HÜBNER MIT LARA HELENA.
Fußnoten
1Rávic Strubel, Antje: Fremd Gehen. Ein Nachtstück. (S.-Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017), S. 26. 2Ebd., S. 35. 3Ebd., S. 132 4Ebd., S. 77. 5Ebd., S. 92. 6Ebd., S. 123. 7 Ebd., S. 171. 8Ebd., S. 172.
Zitierte Ausgabe:
Rávic Strubel, Antje: Fremd Gehen. Ein Nachtstück. (S.-Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017).
Nika Pavot, geboren 1999 in Frankfurt/M., hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin und Paris studiert. Sie begann mit dem Schreiben dank einer Strafarbeit. Auszeichnungen für Prosa und Lyrik, zuletzt den Publikumspreis bei der Nacht der jungen Lyrik 2022; Veröffentlichungen in Zeitschriften und Magazinen, z.B. etcetera; Teilnahme an zahlreichen Schreibwerkstätten, u.a. Literaturlabor Wolfenbüttel 2020/21, Werkstatt für junge Literatur in Graz 2021, young poems am Haus für Poesie 2022. Einladung zum Schreib-Seminar “Die große Reise” des S.-Fischer Verlags und der Roger Willemsen Stiftung durch J. Hosemann 2022.