LITERATUR, PRIDE

Bin ich Polysecure?

by héloise markert

Foto: Wiki­Com­mons

23/02/2023

Auf einem Date vor ein paar Wochen ver­wick­el­ten wir uns in ein Gespräch über das Buch Pol­y­se­cure: Attach­ment, Trau­ma and Con­sen­su­al Non­monogamy (2020) der Psy­chother­a­peutin Jes­si­ca Fern. Mein Date verkün­dete mit leuch­t­en­den Augen: “Dieses Buch ist meine Bibel!” So geht es derzeit vie­len Poly-Men­schen, denn viele Fach­büch­er zu Polyamor­ie gibt es nicht. In unser­er mononor­ma­tiv­en Welt ist es dur­chaus üblich, dass Hin­weise und Inspi­ra­tion für ein Leben außer­halb der Monogamie aus ver­schieden­sten Werken und Lebenser­fahrun­gen in mühevoller Kleinar­beit zusam­menge­sucht wer­den müssen. Also dür­fen wir zele­bri­eren, dank Fern eine Verknüp­fung der Erken­nt­nisse der Bindungs­the­o­rie mit ver­schiede­nen For­men polyamor­er Beziehun­gen zu erhal­ten. Von monoga­men Men­schen erwarte ich an dieser Stelle allerd­ings auch ein gewiss­es Inter­esse an diesem Buch. Auch diese kön­nen Erken­nt­nisse daraus ziehen. Es ist nur fair, dass sich die Rollen für einen Moment ein­mal umdrehen und die Monogamie nicht im Fokus steht. 

Nach­dem ich das Buch gele­sen hat­te, gab es einige Wochen, in denen ich vor jedem Men­schen in meinem Umfeld pas­sion­ierte Reden über die Ent­deck­un­gen hielt, die ich darin gemacht hat­te. Für mich per­sön­lich waren es aber gar nicht die Aus­führun­gen darüber, wie ein guter und sicher­er Wech­sel von ein­er monoga­men Beziehung zu ein­er polyamoren Beziehung funk­tion­ieren kann, noch die Analyse von sicher­er Bindung in der Poly-Welt, die mich gecatcht haben. Stattdessen eröffnete mir dieses Buch die Grund­la­gen der Bindungs­the­o­rie und die Auswirkun­gen dieser auf mich selbst. 

Tat­säch­lich hat­te ich mich vor der Lek­türe des Buch­es noch nicht aktiv mit der Bindungs­the­o­rie beschäftigt. So kon­nte ich mit den Begrif­f­en nichts anfan­gen und sie nah­men auch keine wichtige Rolle in meinem Leben ein. Mit­tler­weile frage ich mich, wie das möglich war, da gefühlt jed­er zweite Instapost und Tik­tok Video darauf einge­ht und es auch in Gesprächen mit Men­schen häu­figer auf­taucht. Also selb­st wenn bish­er das Inter­esse für die Bindungs­the­o­rie noch nicht geweckt war, lohnt es sich doch auf jeden Fall, sich damit zu beschäfti­gen, um die süßen Memes mit den kleinen miteinan­der kuschel­nden Tierchen nachvol­lziehen zu können. 

Die Bindungs­the­o­rie ist ein psy­chol­o­gis­ches Mod­ell, das ver­schiedene Erken­nt­nisse der Entwick­lungspsy­cholo­gie und der Bindungs­forschung miteinan­der verbindet. Sie ist in den 1960er Jahren ent­standen, dank des britis­chen Psy­cho­an­a­lytik­ers und Kinderpsy­chi­aters John Bowl­by. Fern beschreibt in ihrem Buch zunächst eben jene Bindungs­the­o­rie. Es geht darum, wie wir alle von Geburt an die Erwartung und den Wun­sch ver­spüren, in eine enge Verbindung mit anderen Men­schen zu treten. Im Falle eines Kleinkindes sind dies meist die eige­nen Eltern. Basierend darauf, wie gut diese auf ihr Kind einge­hen kön­nen und es angemessen unter­stützen, entwick­elt sich zwis­chen ihnen und ihrem Nachkom­men entwed­er eine sichere Bindung oder ein­er der drei unsicheren Bindungstypen. Diese vier Bindungstypen sind grundle­gend für das spätere Leben eines Men­schen und bee­in­flussen das Selb­st­bild und die Art und Weise, wie Nähe aufge­baut wird, noch bis ins Erwach­se­nenal­ter. Während Men­schen mit einem sicheren Bindungsstil ein gesun­des Selb­st­bild haben, bess­er mit Stress umge­hen kön­nen und aus­geglich­ene Beziehun­gen führen, haben Men­schen mit unsicher­er Bindung Prob­leme damit, ihre eige­nen Gefüh­le zu reg­ulieren. Der unsich­er-ver­mei­dende Typ wirkt häu­fig eher abweisend und zieht sich schnell aus Beziehun­gen zurück, wohinge­gen Men­schen mit unsich­er-ambiva­len­ter Bindung eher als ängstlich und anhänglich wahrgenom­men wer­den. Erst später wurde ein viert­er Bindungstyp kat­e­gorisiert. Kinder, die kein kon­sis­tentes Ver­hal­ten gegenüber ihren Eltern zeigten und sich zeit­gle­ich unsich­er-ver­mei­dend und unsich­er-wider­set­zend ver­hiel­ten, wur­den der desorganisierten/desorientierten Bindung zuge­ord­net. Dieser Bindungstyp ste­ht häu­fig im Zusam­men­hang mit trau­ma­tis­chen Erfahrun­gen. Im zweit­en Kapi­tel erk­lärt Fern warum es sin­nvoller ist, sich die Bindungstypen eher anhand eines Spek­trums mit der Bindungsangst in der Hor­i­zon­tal­en und der Ver­lus­tangst in der Ver­tikalen vorzustellen — so ist es möglich, Nuan­cen bess­er darzustellen. 

Das darauf­fol­gende Kapi­tel war entschei­dend für den rel­a­tiv­en Erfolg Ferns mit ihrem Buch. Die Bindungs­the­o­rie in ihrem Ursprung beschäftigt sich mit der Frage, wie die Bindung zu unseren Eltern unsere Fähigkeit, Beziehun­gen aufzubauen und zu pfle­gen, bee­in­flusst. Für Fern war durch ihre Arbeit als Psy­chother­a­peutin allerd­ings nahe­liegend, dass es auch andere Ebe­nen gibt, die einen Ein­fluss auf unseren Beziehungstyp haben. Ihr geschachteltes Mod­ell beste­ht zunächst aus der Selb­st-Ebene — dafür ist zum Beispiel das eigene Selb­st­bild rel­e­vant. Die Beziehungsebene befasst sich mit den ver­schiede­nen 1zu1 Beziehun­gen in unserem Leben. Diese kön­nen für ver­schiedene Trau­ma­ta ver­ant­wortlich sein, aber möglicher­weise auch einen unsicheren Bindungsstil heilen. Danach fol­gt die Zuhause-Ebene. Es geht hier darum, wie die Fam­i­lie als Ganzes inter­agiert, wo gelebt wurde, welche Gen­er­a­tio­nen zusam­men lebten etc. Fern bringt in ihrem Buch das Beispiel ein­er Pati­entin an, die zwar ein sehr gutes Ver­hält­nis mit ihren Eltern hat­te, aber als Kind viel umge­zo­gen ist und dadurch nun immer die Angst ver­spürte, auch ihr Part­ner würde sie ver­lassen. Die lokale-Gemein­schafts-Ebene befasst sich mit Sportvere­inen, Lehrer*innen, der Kirche vor Ort, etc. Beson­ders wichtig ist nun die Gesellschaft­sebene. Dabei geht es um wirtschaftliche, poli­tis­che, rechtliche und medi­zinis­che Fra­gen. Wer hat Rechte und Zugang? Existierende struk­turelle Gewalt kann zu trau­ma­tis­chen Erfahrun­gen führen und jede andere Ebene bee­in­flussen. Damit zeigt Fern auf, dass es für Men­schen, die struk­turell diskri­m­iniert wer­den, deut­lich schwieriger sein kann, sichere Bindun­gen aufzubauen und dadurch eben­falls kom­pliziert­er in der Welt der Polyamor­ie zu navigieren. Es ist wichtig, dass dafür in der polyamoren Bub­ble ein Bewusst­sein entste­ht und ver­sucht wird, einen guten Umgang damit zu find­en. Die bei­den let­zten von Fern beschriebe­nen Ebe­nen sind die Umwelt-Ebene (Naturkatas­tro­phen, Kli­mawan­del) und das kollek­tive Trau­ma. Damit sind zum Beispiel Genozide oder der Kolo­nial­is­mus gemeint. Das Trau­ma tran­szendiert das Indi­vidu­um und kann sog­ar über die Verän­derung der DNA weit­ergegeben werden.

Auch wenn Fern bere­its mehr Bewusst­sein als viele andere Forscher*innen der Bindungs­the­o­rie für Diskri­m­inierung und struk­turelle Ungerechtigkeit hat, ist es ins­beson­dere für einige BIPoC noch nicht aus­re­ichend. Nayeli (@antimononormative) auf Tik­tok merk­te zum Buch Pol­y­se­cure an, dass es nicht viel neues für Men­schen, die sich zuvor schon mit der Bindungs­the­o­rie beschäftigt haben, bein­hal­tet und kri­tisierte eben­falls die weiße Perspektive:

“So, attach­ment the­o­ry is some­thing that emerged in west­ern psy­cho­log­i­cal sci­ence and is based on an under­stand­ing of how peo­ple strug­gle in mid­dle-class white house­holds with their rela­tion­ships and doesn’t real­ly do much to address the sys­temic issues that cause the issues in anyone’s relationship.”

Nayeli (@antimononormative) TikTok

Somit lief­ere das Buch keine aus­re­ichende inter­sek­tionale Perspektive. 

In der Ver­gan­gen­heit wurde Psy­cholo­gie (mit ihren The­o­rien und Diag­nosen) häu­fig als Waffe gegen Peo­ple of Col­or ver­wen­det, die in die Rechts‑, Bil­dungs- und medi­zinis­chen Sys­teme involviert sind. Ein Aspekt davon ist, das viele der Studienteilnehmer*innen in der Psy­cholo­gie als WEIRD charak­ter­isiert wer­den kön­nen. WEIRD ist ein Akro­nym für West­ern, Edu­cat­ed, Indus­tri­al­ized, Rich, Demo­c­ra­t­ic Soci­eties. Diese fehlende Diver­sität kann dazu führen, dass bes­timmte Ver­hal­tensweisen oder ähn­lich­es als absolute Wahrheit­en akzep­tiert wer­den, obwohl sich in anderen Bevölkerungs­grup­pen, außer­halb von WEIRD, ein kom­plett anderes Bild zeich­net. Im Kon­text der Bindungs­the­o­rie ist es ein Prob­lem, dass die kap­i­tal­is­tis­che Kern­fam­i­lie und damit die Ide­ale der indi­vid­u­al­isierten weißen Kul­tur über die Werte von Gemein­schaften geset­zt wer­den, die eher kollek­tiv organ­isiert sind. Das lässt sich zum Beispiel daran erken­nen, dass in der Bindungs­the­o­rie haupt­säch­lich das Ver­hält­nis von Kindern zu ihren Eltern als entschei­dend ange­se­hen wird. Dabei wird außen vor gelassen, dass es weltweit ver­schiedene Bindungssys­teme geben kann, entsprechend der jew­eili­gen Kul­tur. So gibt es mit­tler­weile Ansätze, die Bindun­gen mit ver­schiede­nen Men­schen inte­gri­eren und Raum für ver­schiedene Bezugsper­so­n­en unab­hängig von famil­iären Ver­hält­nis­sen schaf­fen. So kön­nte jet­zt argu­men­tiert wer­den, dass Fern mit ihrem geschachtel­ten Mod­ell sowohl Räume für andere Organ­i­sa­tion von Fam­i­lie und Co. lässt, als auch auf die sys­temis­chen Ungerechtigkeit­en einge­ht — viele BIPoC bericht­en auch, dass sie Fans des Buch­es sind. Ich glaube, dass Nayelis (@antimononormative auf Tik­tok) Prob­lem vor allem ist, dass a) der Fokus nicht auf den sys­temis­chen Ungerechtigkeit­en liegt und b) zwar ein Mod­ell gegeben wird, dass (teil­weise) Raum schafft für Men­schen außer­halb von WEIRD, doch zu wenig Erk­lärung für die Prob­leme der Bindungs­the­o­rie gegeben wird. So wird der Ras­sis­mus, den es auch in der psy­chol­o­gis­chen Forschung gibt, zu wenig beleuchtet. Nayeli bemerk­te, dass die Autorin selb­st mit keinem Wort erwäh­nte, dass sie weiß ist. Mir selb­st waren nach dem Lesen von Pol­y­se­cure viele Prob­leme mit der Bindungs­the­o­rie nicht bewusst und es war notwendig dazu noch explizite Per­spek­tiv­en von BIPoC zu suchen.

In den fol­gen­den Kapiteln wird nun die Bindungs­the­o­rie mit CNM ver­bun­den. CNM ist die con­sen­su­al non-monogamy. So wird zunächst erk­lärt, welche Beziehungs­for­men Teil von CNM sind und was die ver­schiede­nen Moti­va­tio­nen von Men­schen sein kön­nen, um in CNM-Beziehun­gen zu leben. Dabei betont Fern, dass CNM-Beziehun­gen nicht zwangsläu­fig Ursache unsicher­er Bindungsstile sind. Es ist möglich, aber eben genau­so wie es in monoga­men Beziehun­gen möglich ist. Die weni­gen Stu­di­en, die es gibt, zeigen, dass sichere Bindun­gen in CNM-Beziehun­gen etwa so häu­fig sind wie in monoga­men. Danach beschäftigt sich Fern mit dem Wan­del von ein­er monoga­men Beziehung hin zu CNM und den ver­schiede­nen Unsicher­heit­en, die dabei auftreten kön­nen. Ein wichtiger Hin­weis an dieser Stelle ist, dass in monoga­men Beziehun­gen das Gefühl der Sicher­heit manch­mal nicht von einem sicheren Bindungsstil kommt, son­dern lediglich von den gesellschaftlichen Nor­men und Struk­turen. Die Beziehung fühlt sich sich­er an, weil die Regeln schon vorgeschrieben sind und klar ist, wie der Ablauf des Lebens aussieht. So ist es möglich, dass im Wan­del zu CNM schein­bar plöt­zlich ein unsicher­er Bindungsstil aufkommt, der Fern zufolge aber schon davor vorhan­den war. Im siebten Kapi­tel wid­met sie sich der Frage, wie es möglich ist, einen sicheren Hafen und/oder eine sichere Basis für andere Men­schen darzustellen. Dies ist eben­falls eine generell rel­e­vante Frage der Bindungs­the­o­rie. Sichere Häfen sind Men­schen, zu denen es möglich ist, sich bei Bedro­hung zurück­zuziehen und dort Gebor­gen­heit und Schutz zu find­en. Eine sichere Basis wiederum ist eine Per­son, die eine geschützte Grund­lage bildet, um von dort aus die Umwelt zu erkun­den. Hil­fre­ich dafür kann das danach beschriebene HEARTS-Akro­nym sein:

H: Here (being here and present with me)

E: Expressed Delight

A: Attune­ment

R: Rit­u­als & Routines

T: Turn­ing Towards after Conflict

S: Secure Attach­ment with Self

Das “S” von HEARTS erhält dann auch den let­zten großen The­men­block. So geht es darum, wie eine sichere Bindung mit sich selb­st gebildet wer­den kann. Wichtig dafür ist laut Fern, die eigene Lebens­geschichte zu ver­ste­hen und aufzuar­beit­en. So geht es darum, uns zu erlauben zu fühlen, was nicht gefühlt wurde, um let­z­tendlich mit sich selb­st mehr im Ein­klang zu sein. Fern ist der Überzeu­gung dass es nicht notwendig ist zuerst eine sichere Bindung mit sich selb­st aufzubauen (Nach dem Mot­to: “Du musst erst dich selb­st lieben, bevor du Andere lieben kannst”), doch genau­so wenig sind es immer die sicheren Bindun­gen mit anderen Men­schen die zuerst aufge­baut wer­den müssen.

Wie in der Rezen­sion gezeigt, bein­hal­tet Pol­y­se­cure sowohl für Men­schen in CNM- als auch in monoga­men Beziehun­gen wichtige Hin­weise. Auch Per­so­n­en, die zunächst an sich selb­st arbeit­en wollen, kön­nen wichtige Erken­nt­nisse aus diesem Buch ziehen. Ich ver­mute, dass ich selb­st es noch mehrmals durch­blät­tern werde und zu jew­eili­gen Kapiteln springe, da es immer wieder neue Erken­nt­nisse aus diesem Buch geben wird, die rel­e­vant für mich sein wer­den. Fra­gen, die Fern beispiel­sweise allen Leser*innen stellt und die ich immer wieder neu für mich beant­worten muss, sind: “Bist du ver­füg­bar?” “Bist du ansprech­bar?” “Bist du emo­tion­al engagiert?” 

Wie sieht es bei dir aus?

LEKTORIERT VON LARA HELENA.

Bib­li­ogra­phie

Fern, Jes­si­ca: Pol­y­se­cure: Attach­ment, Trau­ma and Con­sen­su­al Non­Monogamy, 2020, Thor­nap­ple Press


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