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ESSAY

Rinnsal der Zeit: Von Deadlines und Tagträumen

by NORA GROSSMANN

22/04/2023

„Ich wage einen Blick zum Wand­kalen­der, wo die Dead­line mein­er Hausar­beit rot markiert ist. Während mein Hirn raucht und der Com­put­er über­hitzt, ver­dampfen die Tage wie flüs­siger Stickstoff.“

Wie eine Per­len­schnur rin­nt der Sand durch den Hals des Stun­den­glases. Die App in Retro-Optik ist unnötig detail­ge­treu. Sie tak­tet meine Arbeit­szeit: noch 8 Minuten bis zur näch­sten Pause (laut den dig­i­tal­en Zif­fern, die unter­halb der San­duhr-Ani­ma­tion abwärts zählen). Ich starre auf das Dis­play und warte darauf, dass sich der obere (dig­i­tale) Glaskol­ben leert. Der Sand rieselt zu langsam … und gle­ichzeit­ig viel zu schnell: Ich wage einen Blick zum Wand­kalen­der, wo die Dead­line mein­er Hausar­beit rot markiert ist. Während mein Hirn raucht und der Com­put­er über­hitzt, ver­dampfen die Tage wie flüs­siger Stickstoff.

Der Sand hyp­no­tisiert mich. Ich möchte die Per­len­schnur pack­en und fes­thal­ten, damit sie mir nicht weit­er die Zeit raubt. Gedanken­ver­loren tauche ich mit den Fin­gern ins Dis­play, wie durch die dünne Mem­bran von Wass­er. Ich ergreife die Schnur und ziehe daran, doch sie gleit­et mir aus der Hand. Ich wick­le sie um meinen Zeigefin­ger. Mit einem kräfti­gen Ruck will ich die Kette durchtren­nen. Anstatt zu zer­reißen, gibt sie nach … ehe sie zurückschnappt wie ein gelöstes Maßband und mich mit sich reißt. 

Alles dreht sich … bis ich mich inmit­ten eines gold­e­nen Stroms wiederfinde. Nur mit Mühe halte ich den Kopf über der Ober­fläche. In wilden Wassern treibe ich auf einen Eng­pass zu. Dahin­ter stürzt das Gold in unbekan­nte Tiefen. Gegen die Strö­mung schwim­mend ver­schwende ich meine Energie. Der Sturz ist unauswe­ich­lich, doch ich bin noch nicht bere­it … Ich greife nach allem, was mir in die Fin­ger kommt. Die glitschi­gen Felsen, die aus dem Wass­er ragen, geben mir keinen Halt. Endlich ertaste ich einen Ast, an dem ich mich fes­tk­lam­mere. Ich höre auf zu pad­deln und atme tief durch. Als ich bemerke, dass mein Ast ein Stück Treib­holz ist, welch­es den Launen des Stroms genau­so aus­ge­set­zt ist, wie ich, bin ich bere­its an der Kante. Ich schaffe es grade noch, die Luft anzuhal­ten, ehe mich der Strom in den Abgrund zieht. 

Als ich zu mir komme, befinde ich mich auf fes­tem Grund. Sand rieselt in mein Haar. Ich sitze auf ein­er staubi­gen Düne: Auf einem Berg aus zer­ronnenen Momenten, der stetig wächst. Plöt­zlich erzit­tert die Düne. Die Körnchen rutschen unter mir weg und kullern den Hang hin­unter. Als der Berg in sich zusam­men­sackt, schrecke ich hoch. Das Smart­phone vib­ri­ert in mein­er Hand und mir wird schla­gar­tig bewusst, dass ich soeben 8 Minuten Arbeit­szeit ver­schwen­det habe.

EDITED By LARA HELENA.


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