PHILOSOPHIE
Fleisch & Fragmente II
Die Körperteil-Kolumne. Kapitel II: Der Nacken
by CLARA BERLICH

27/05/2023
Wir sind Körper und wir haben welche. Wir trainieren und wir essen und wir berühren. Nach Maß. Ein ganzer Körper ist die Summe seiner Teile. Vielleicht mehr als das, vielleicht weniger. Ein ganzer Körper, das mag überhaupt eine Utopie sein. Körper sind sterblich. Der Anspruch des Körpers als Tempel endet typischerweise in einer Bruchbude. Man hätte seine Stimme bei der letzten Wahl vielleicht der Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung geben sollen. Vielleicht wäre das ‚body positive‘ gewesen. Es munkelt dieser Tage allerdings, dass ‚body neutral‘ völlig hinreichend ist. Neutral ist gut. Neutral ist nicht toxisch. Zum Beispiel: Bei Körper und Seele, da kann man auch einfach ganz neutral sein.Versuchen wir es also, mit Gefühl, und ganz neutral, und vorsichtig, so wie man die körperlichen Dinge eben angehen sollte. Wir tasten uns heran. An die Einzelteile, ganz losgelöst von Ganzheitlichkeit und guter Form.
Jetzt lesen: Fleisch & Fragmente. Die Körperteil-Kolumne. Kapitel I: Der Fuß
„Was denkst du, wenn du ‚Nacken‘ denkst?“, frage ich meine Freundin L. „Ja, an einen Kuss, oder zwei …“, sagt L. „Den Nacken von der Erotik loszulösen ist ja völlig unmöglich.“ Ich möchte L.s These überprüfen und hake im Freundeskreis weiter nach. Tatsächlich scheinen sich viele meiner Freund*innen zu wünschen, beinahe unablässig in den Nacken geküsst zu werden. Andere Aussagen zum Thema lauten, grob zusammengefasst: “Nackensteak, das ist mein Lieblingsessen“ und „Thüringer Rostbrätel ist mariniertes Schweinenackensteak“ und „Ach ja, Schweinenackensteak …“, langer Seufzer, usw. usf. Die Nacken-Erotik-These scheint vorerst zu halten.
Als die wissenschaftliche Anatomie noch in den Kinderschuhen steckte, waren es Tiere, deren Bestandteile unter der Lupe den Rückschluss auf Funktion und Aufbau des menschlichen Körpers erlaubten. Da ich keine streng wissenschaftlichen Absichten hege, kann ich heute noch vom Schwein auf den Menschen schließen. Oder darauf verweisen, wie eine Katze ihre Jungen transportiert. Der mütterliche Biss in den Nacken löst beim Katzenbaby die ‚Tragestarre‘ aus, und es lässt sich ohne Probleme durch die Gegend schleppen. Vom Schwein über die Katze bis hin zum menschlichen Nacken lässt sich sagen: Da kann man reinbeißen, und manchmal ist das gar nicht schlimm, sondern sehr nützlich. Was natürlich eine Frage der Perspektive ist. Von der Perspektive des Schweins aus gesehen, will man über Thüringer Grillkulturen lieber nicht nachdenken.
Ich google „Biss“ und „Nacken“ und springe vom Tierischen direkt zum Übermenschlichen. Auf Quora.de gibt es nämlich einen langen Thread zur Frage: „Warum beißen Vampire ihren Opfern in Geschichten immer in den Nacken?“ Ein User merkt an, dass nur Zombies ihre Opfer in den Nacken beißen, Vampire aber beißen immer in den Hals. Ein anderer User bestätigt das mit Verweis auf die Halsschlagader („Glauben Sie mir, ich bin Fachmann“). Und eine dritte Person klärt die ganze Diskussion als Problem der Übersetzung auf: Das englische „neck“ bezeichnet den ganzen Hals, auch wenn der Unterschied zum deutschen Nacken nur aus zwei Buchstaben besteht. (Weswegen es vermutlich schwer ist, zu sagen, wo genau Vampire hinbeißen, wenn man Twilight im Original gelesen hat.) Wie es sich für einen Raum des offenen Diskurses gehört, wirft Quora mehr Fragen auf, als beantwortet werden. Gibt es im Englischen kein eigenes Wort für Nacken? Wo genau beißen Vampire zu? Und wo ist überhaupt der Unterschied zwischen Vampiren und Zombies und dem Hals und dem Nacken?
Meine Hausärztin sagt: „Der Nacken ist länger als der Hals.“ Mit dem Nacken meinen wir typischerweise die hintere Region des Halses rund um die Halswirbelsäule. Also vom Haaransatz am Hinterkopf die lustigen kleinen Knubbel runter bis zu dem, was man eher als ‚Rücken‘ bezeichnen würde. Oder: Wir meinen den Muskel namens Trapezius, auch niedlich ‘Kapuzenmuskel’ genannt, der zu den eingewanderten Rumpfmuskeln gehört, die ihren Ansatz am Schultergürtel finden, und der sich in eine Pars descendens, eine Pars ascendes und eine Pars transversa gliedert. Also, grob übersetzt, da gibt es einen absteigenden und einen aufsteigenden und einen querverlaufenden Teil.1 Auf Englisch heißt „Nacken“ außerdem „nape“.2 Das sagt aber niemand mehr. Geläufiger ist „back of the neck“. Wie zum Beispiel im Falle eines YouTube-Kommentars, der fragt, ob es etwas Schöneres auf der Welt gibt als: „Tarkovski filming his characters‘ back of the neck?“ Der Kommentar steht unter einer Szene aus dem Film, den man immer gut als Lieblingsfilm anführen kann, wenn man die eigene Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum gerade dringend unterstreichen muss und Godard vielleicht zu links wäre. Weit abseits jeder Ironie sind aber sowohl Andrei Tarkovskis Spiegel als auch Margarita Terechovas Nacken nichts weniger als ergreifend.
Das deutsche Wort „Nacken“ klingt im Übrigen sehr wie das deutsche Wort „nackt“. Etymologisch gesehen ist das zwar totaler Humbug. Der Philosoph Jacques Derrida allerdings stand einmal nackt in seinem Badezimmer und wurde dabei von seiner Katze beobachtet. Dies inspirierte Derrida zu einer zehnstündigen Rede mit dem Titel L’Animal que donc je suis, die hinterher als Essay veröffentlicht wurde. Was hat das mit dem Nacken zu tun? Abgesehen davon, dass es zu der Frage ermuntert, ob Derridas Nacken im entscheidenden Augenblick nackt war, oder ob sich der große Philosoph das Handtuch zur Aufbewahrung nach dem Duschen lässig um den Hals gelegt hatte … nicht viel. Aber ich möchte Derridas Aufsatz all jenen ans Herz legen, die sich daran stören, dass ich hier Menschen, Katzen und Schweine in einen Topf werfe. Vergessen habe ich zu erwähnen, dass Rinder die meiste Kraft in ihrem Nacken haben. Deswegen ist es auch ein großes Kompliment, wenn jemand einem sagt, man hätte einen Nacken wie ein Stier.

Der nackte Nacken ist eine gefährliche Sache. Zum Beispiel wegen der erotischen Mächte, die eine gute Frisur und die freiliegende Haut darunter entfalten können. Und auch, weil man sich da einen ganz bösen Zug holen kann. Ungefähr ein- bis achtmal im Jahr kann ich meinen Kopf auf einmal nicht mehr nach links drehen. Manchmal hat das übrigens mit kalter Luft gar nichts zu tun. Während ich etwa gerade diesen Artikel schreibe, sitze ich mit einer halben Pobacke und verschränkten Beinen seitwärts auf einem Ikea-Hocker, ziehe die Schultern hoch und beuge den Kopf tief über meinen Schreibtisch. Der Begriff „Handynacken“ hat sich mittlerweile gut etabliert. Das hat evolutionäre Dimensionen: Durch das ständige Beugen des Nackens über Handy und Laptop üben die Nackenmuskeln da, wo sie auf den Kopf treffen, höheren Druck aus. Um dem stärkeren Zug der Muskeln standzuhalten, bilden sich zusätzliche Knochenschichten. Die Wissenschaftler*innen vom Dienst merken aber auch an, dass in jedem Fall große Sorge um die Nackenmuskulatur der 18–30jährigen Bevölkerung besteht. Im Detail wird vor Morbidität, Invalidität und damit verbundenen physischen, sozialen und finanziellen Lasten für Individuum und Gesellschaft gewarnt.
Ich setze mich ordentlich hin und entschränke meine Beine. Dann taste ich in meinem Nacken herum und fühle – naja, hart fühlt es sich jedenfalls schon an. Ob ich zu einer neuen Spezies von Handynackenmenschen gehöre oder ein Auslaufmodell bin, und ob der Knubbel unter meinem Haaransatz ein Knopf ist, auf den man drücken kann, um nachhause zu telefonieren, da bin ich mir nicht sicher. Was vom idiomatischen Standpunkt aus gesehen auch im Nacken sitzt, ist der Schalk. Oder die Angst.

Der Nacken ist ein empfindsamer Punkt. Der Katze und des Menschen. Selbst die ‚Titanen‘ in der Manga-Serie Attack on Titan haben zwar wahnsinnig gute Haut und jede ihnen zugefügte Wunde heilt innerhalb kürzester Zeit – aber im Nacken, da sind sie verwundbar. (Da die Titanen außerdem 3–15 Meter groß sind, müssen ihre Gegner*innen allerdings sehr hoch springen, um den wunden Punkt im Nacken zu erreichen.) Neben wissenschaftlichen Studien zum Handynacken spuckt die Google-Suche der ‚Nackenschmerzen‘ eine Unmenge an Selbsthilfeliteratur aus. Die sich eher um die Seele als um Muskelgruppen sorgt. Die Spielchen mit der deutschen Sprache werden zum bitteren Ernst: Bei fehlendem Selbstvertrauen, da ziehen wir den Kopf ein, und Resultat ist ein Schultermuskelsumpf. Oder aber wir sind zu hartnäckig, und deswegen tut‘s weh. Wenn wir beseitigen, was uns im Nacken sitzt, wird der Schmerz nachlassen. Im antiken Griechenland haben sie eine Zeit lang geglaubt, die Seele sitzt im Kopf – und so richtig widerlegt hat das bislang noch niemand. Damit wäre der Nacken, der mitsamt seiner Nerven- und Muskelstruktur Kopf und Körper verbindet, der Punkt, an dem sich Leib und Seele verbinden. Oder trennen lassen.

Im März 1792 reduziert die Einführung der Guillotine den Tod als Strafe „auf ein sichtbares, aber augenblickliches Ereignis“.3 Sagt Michel Foucault, der in seiner Analyse der gesellschaftlichen Funktion von Strafe und Strafkultur nachzeichnet, welche Wende das 18. Jahrhundert diesbezüglich markiert. Während lange Zeit öffentliche Folter und langwierige Martern auf dem Programm standen, wird die Todesstrafe im Europa der Aufklärung zu einer sauberen Sache. Der Henker an der Guillotine wird zum Mechaniker, sagt Foucault, der Tod wird ohne körperliche Konfrontation herbeigeführt. Wenn es vorher der Körper war, an dem und durch den eine Strafe vollstreckt wird, so wird mit der Guillotine nicht mehr an den Körper gerührt – „oder jedenfalls so wenig wie möglich und um in ihm etwas zu erreichen, was nicht der Körper selber ist“.4 An die Seele, etwa? An die Seele des „juristischen Subjekts“ jedenfalls. Während der Französischen Revolution ist es der saubere Schnitt im Nacken, mit dem der Kopf abgetrennt und die neue Ordnung eingeführt wird. (Tatsächlich kommt die Guillotine dann auf eine Weise zum Einsatz, die in Effizienz und Grausamkeit dem ähnelt, was dieser Tage mit den Schweinenacken geschieht.)

In den Vereinigten Staaten des beginnenden 20. Jahrhunderts wird der Hals nicht mehr durchtrennt, sondern an der Rückseite beschriftet. Die Abendausgabe des Duluth Herald vom 22.August 1921 berichtet, dass Emigrant*innen den eigenen Namen mit „unauslöschlicher Tinte“ in den Nacken geschrieben bekommen. Ziel ist es, den Schwarzhandel mit Pässen zu unterbinden. Legal ist, wer einen Stempel im Nacken hat.
Ob amerikanische Einwanderungspolitik oder französische Revolution, in beiden Fällen packt die Justiz das juristische Subjekt im Nacken. Um eine Tragestarre auszulösen? Nach der Enthauptung ist das eher überflüssig. Nichtsdestotrotz bin ich versucht, den ‚Griff in den Nacken‘ hiermit zum Machtinstrument zu erklären. Oder jedenfalls zu etwas sehr Furchteinflößendem. (Da stellen sich einem die Nackenhaare auf.) Dementsprechend wäre Hartnäckigkeit eine Tugend: ein harter Nacken, also ein Nacken, der standhält, der sich nicht leicht greifen und nicht beugen lässt. Halsstarrigkeit, die auch einen Mangel an Flexibilität ausdrückt, ist im alltäglichen Sprachgebrauch meist negativer konnotiert. War Sisyphos hartnäckig oder halsstarrig? Und Galileo Galilei? Ulrike Meinhof? Wilhelm Tell? Angela Merkel?
Es bleibt die Frage der Berührung. Lässt sich eine Hand im Nacken denken, die kein Griff wäre, die also mit Macht und Dominanz so gar nichts zu tun hat? Beim Friseur hat man oft Hände im Nacken. (Und manchmal auch scharfe Klingen.) Ein Freund erzählt mir, dass es das unter Jungs beim Sport gibt: eine Hand im Nacken, ganz ähnlich dem kollegialen Schulterklopfer. Ich habe meinem Exfreund vor vielen Jahren beim Autofahren gern die Hand in den Nacken gelegt. Er konnte das nicht leiden. Ich wollte eigentlich nur sein wie Jane, die abwesende Heldin im Fänger im Roggen. Holden Caulfield war von Janes Hand in seinem Nacken nämlich begeistert: „Es war während der Wochenschau, glaube ich, und plötzlich fühlte ich Janes Hand im Nacken“.5 Mir ist diese Buchstelle über Jahre hinweg im Gedächtnis geblieben. Da ich mich selbst gern verkläre und wenig eigene Ideen habe, habe ich das mit der Hand im Nacken dann tatsächlich bei mehr als einem Partner probiert. Im Kino und im Auto. Mit mäßigem Erfolg, der Abstand zwischen mir und Jane bleibt unüberbrückbar. Vielleicht, weil Janes Berührung nur auf Papier stattfindet. Ich lese noch einmal nach: „Sie war ja noch ganz jung, und meistens legen nur Fünfundzwanzigjährige oder Dreißigjährige ihrem Mann oder ihrem Kind die Hand in den Nacken (…). Aber wenn ein Mädchen noch so jung ist, und diese Bewegung macht, ist das so nett, daß es einen umwerfen kann.“6 Es lässt sich daraus schließen, ich brauche das inzwischen gar nicht mehr probieren mit der ‚netten‘ Hand im Nacken – ich bin schon zu alt.

Zum Schluss möchte ich noch zu einem Ausflug ins Archiv der Berliner Zeitung einladen. Die Rubrik Lokales vom 17.8.2006 berichtet, wie der Berliner Jürgen Iser gerade ein Dach im polnischen Dorf Wojtowice reparierte, als eine Fledermaus angeflogen kam und ihn „nach Vampir-Art in den Nacken biss“. Rote Streifen auf der Haut, Halluzinationen und ein tauber Schädel führten den Mann auf die Isolierstation der Charité. Dort bekam er wegen der kleinen Bisswunde im Nacken 14 Spritzen. Wie die Diagnose am Ende lautete, und ob Jürgen Iser sich später noch in irgendetwas anderes verwandelte, darüber gibt die Berliner Zeitung keine Auskunft. Die Frage, wo genau Vampire zubeißen, dürfte damit trotzdem geklärt sein.
LEKTORIERT VON Jan Kabasci.
Quellen und Fußnoten
Derrida, Jacques (2008), The Animal That Therefore I Am. Fordham University Press, New York.
Shahar, D., Sayers, M.G.L. (2018), Prominent exostosis projecting from the occipital squama more substantial and prevalent in young adult than older age groups. Sci Rep 8, 3354.
Tarkovsky, Andrei (1975), Der Spiegel [Зеркало], Sowjetunion: Mosfilm.
1 Platzer, Werner (1999) (Hrsg.), Taschenatlas der Anatomie: Band 1 Bewegungsapparat. 7. und vollständig überarbeitete Ausgabe, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, S. 146.
2 Im medizinischen Umfeld bezeichnet das Adjektiv nuchal im Englischen wie im Deutschen auf den Nacken bezogene oder zum Nacken gehörige Dinge. Das kommt vom Lateinischen nucha, was wiederum vom Arabischen Nukha für Rückenmark abstammt. Der französische Nacken (Nuque) und auch der italienische (Nuca) sind da noch ein wenig dichter dran.
3 Foucault, Michel (1976), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 21.
4 ebd. S. 18.
5 Salinger, Jerome D. (1951), Der Fänger im Roggen. Übersetzt von Heinrich Böll. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln, S. 60.
6 ebd. S. 61.