PHILOSOPHIE
Fleisch & Fragmente IV
Die Körperteil-Kolumne. Kapitel IV: Das Ohr
by CLARA BERLICH

28/10/2023
Wir sind Körper und wir haben welche. Wir trainieren und wir essen und wir berühren. Nach Maß. Ein ganzer Körper ist die Summe seiner Teile. Vielleicht mehr als das, vielleicht weniger. Ein ganzer Körper, das mag überhaupt eine Utopie sein. Körper sind sterblich. Der Anspruch des Körpers als Tempel endet typischerweise in einer Bruchbude. Man hätte seine Stimme bei der letzten Wahl vielleicht der Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung geben sollen. Vielleicht wäre das ‚body positive’ gewesen. Es munkelt dieser Tage allerdings, dass ‚body neutral’ völlig hinreichend ist. Neutral ist gut. Neutral ist nicht toxisch. Zum Beispiel: Bei Körper und Seele, da kann man auch einfach ganz neutral sein. Versuchen wir es also, mit Gefühl, und ganz neutral, und vorsichtig, so wie man die körperlichen Dinge eben angehen sollte. Wir tasten uns heran. An die Einzelteile, ganz losgelöst von Ganzheitlichkeit und guter Form.
Mein Freund L. sagt, das gibt es wirklich: Leute, die mit den Ohren wackeln können. L. sagt, in seiner Schulzeit, da gab es Schüler*innen, die den lieben langen Tag überhaupt nichts anderes gemacht haben, als ununterbrochen mit den Ohren zu wackeln. Ich halte das für ein Gerücht. Ganz-wie-von-selbst-wackelnde Ohren habe ich bislang nur im Fernsehen und im Internet gesehen. Aber immer, wenn ich im echten Leben jemanden dazu auffordere, mit den Ohren zu wackeln, sieht die jeweilige Person einfach aus, als müsse sie dringend auf Toilette.
Ohren sind seltsam. Die Power Puff Girls haben keine. Die von Legolas sind oben ganz spitz. Esel können ihre um 180 Grad drehen. Vincent van Gogh hat sich eines abgeschnitten. Oder aber auch nicht, und Paul Gauguin hat dem armen Vincent dessen Ohr in Folge eines Streits abgeschnitten. Da sind sich Expert*innen bis heute uneinig. Und Kyle MacLachlan findet ein einzelnes Ohr auf einer Wiese, am Anfang von David Lynchs Blue Velvet.
Im Vergleich zu anderen Körperteilen werden Ohren ziemlich häufig abgeschnitten. Ähnlich oft wie Finger oder Hände vielleicht. Und auch oft unter ähnlichen Umständen. Zur Bestrafung kleinerer Fehltritte im Mittelalter. Oder um den Angehörigen eines Entführungsopfers einen netten Gruß zukommen zu lassen. Oder im Verhörraum. Zum Beispiel bei Quentin Tarantino, in Reservoir Dogs: Der gelangweilte Bankräuber Mr. Blonde (Michael Madsen) schneidet da das Ohr eines armen Polizisten namens Marvin mit einer Rasierklinge ab. Angeblich ist vor allem diese Filmszene dafür verantwortlich, dass reihenweise Leute aus dem Kino gegangen sind, weil ihnen Tarantinos erster großer Film zu blutig (oder zu blöd) war.

Das ist ein einigermaßen brutaler Einstieg ins Thema. Aber das ist unvermeidbar. Weil die meisten Leute sowieso sofort „van Gogh“ sagen, wenn man sie fragt, was ihnen zum Thema „Ohr“ einfällt. Und weil gilt: Wer nicht hören will, muss fühlen. In Form von Ohrfeigen und langgezogenen Ohren. Die Redewendung „Schreib’s dir hinter die Ohren” kommt vermutlich daher, dass im Mittelalter viele wichtige Verträge nur mündlich abgeschlossen wurden. Damit sich trotzdem wer daran erinnern konnte, wem welches Grundstück gehört, wurden Kinder mit zum Vertragsabschluss genommen und ein bisschen geohrfeigt, um das Gedächtnis zu stabilisieren. Somit gab es dann „testes per aures tracti” („an den Ohren gezogene Zeugen”).
Ohren werden oft grob behandelt. Sie werden als Segelohren beschimpft, sie werden durchstochen und dann mit Ohrringen behangen, ein Leben lang und dann so schwer, dass sich bei manch älterer Dame die Ohrläppchen erstaunlich in die Länge gezogen haben. Es gibt Leute mit einem, zwei, drei, vier, fünf Ohrlöchern, manche haben einen Tunnel statt einem Loch. Das alles ist Geschmackssache. Ich persönlich finde beispielsweise Segelohren sehr schön. Dass Leute da so drunter leiden können, dass sie sich die Ohren vom plastischen Chirurgen anlegen lassen, kann ich zwar verstehen. Ich habe auch wirklich gar nichts gegen plastische Chirurgie. Es ist nur so, dass ich immer daran denken muss, dass viele Tiere ihre Ohren nur dann anlegen, wenn sie Angst haben. Im Umkehrschluss sehen abstehende Ohren irgendwie mutig aus, und fröhlich. Und das gefällt mir.
Geschmackssache ist es auch, sich, wenn auch nur vorübergehend, dutzende kleine Nadeln in die Ohren setzen zu lassen. Zu gesundheitlichen Zwecken. Die Auriculotherapie, also die Ohrakupunktur, gab es vermutlich schon im 5. Jahrhundert vor Christus. Der französische Arzt Dr. Paul Nogier hat die Nadeln im Ohr dann im 20. Jahrhundert wieder en vogue werden lassen. Nogiers Theorie nach hat das äußere Ohr dieselbe Form wie ein auf dem Kopf stehender menschlicher Embryo. Also: der Kopf befindet sich am Ohrläppchen, ein Teil der Ohrmuschel ist dann die Wirbelsäule usw. Somit soll es Wechselwirkungen geben: Wenn bestimmte Punkte am Ohr gepiekst werden, geht es dem Körper an anderen, mit dem jeweiligen Ohrteil korrespondierenden Stellen, auch besser. Ob diese Wechselwirkungen wohl jemals berücksichtigt werden, wenn sich ein Kind im Hinterzimmer von Bijou Brigitte Ohrlöcher stechen lässt? Ich glaube nicht. Allerdings ließen sich der Legende nach Piraten früher den goldenen Ohrring durch den „Augenpunkt” am Ohr stechen, um ihre Sehkraft zu fördern. Und der niederländische Maler Hieronymus Bosch hat in seine „musikalische Hölle” auch ein Ohr hinein gemalt, mitsamt Messer und Lanze und Pfeil. Wenn wir den Ohr-Theorien Nogiers folgen, dann ist bei Bosch die Lanze genau auf den Punkt „Libido” gerichtet. Zufall? Vielleicht.

Die wissenschaftliche Basis für Theorie und Verfahren der Auriculotherapie ist—bislang—nicht so ganz stabil. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt, ist folgendes: Das menschliche Ohr besteht aus drei verschiedenen Teilen. Das, was bei Tarantino oder unter verkrachten Künstlerfreunden vom Abschneiden bedroht ist, also das sichtbare Ohr, ist nur der erste Teil, das äußere Ohr. Mit dem äußeren Ohr werden Schallwellen aufgenommen, die Ohrmuschel funktioniert wie ein Trichter und trägt weiter, im Trommelfell werden die Schallwellen in Schwingungen verwandelt, und jetzt befinden wir uns im Mittelohr. Da gibt es, wunderbarerweise, dann eine Paukenhöhle (mitsamt Amboss, Hammer und Steigbügel) und eine Ohrtrompete, die uns in den Nasen-Rachenraum führt und ins Innenohr hinein. Im Innenohr gibt es einen Vorhof und eine Schnecke. Diese ist (anders als meine Schwester im Vorschulalter erschrocken feststellte) keine echte, lebendige Schnecke, sondern schlicht der Ort, an dem die Schwingungen von feinen Flimmerhärchen (Haarzellen) in Nervensignale umgewandelt und ans Gehirn geschickt werden. Glitschig ist diese Schnecke aber auch, sie ist nämlich mit Flüssigkeit gefüllt. Im Übrigen sitzt in besagtem Vorhof das Gleichgewichtsorgan. Es ist nämlich auch das Ohr, dem wir es zu verdanken haben, dass wir überhaupt merken, wo oben und wo unten ist. Und dass wir uns dann durch das ganze Oben und Unten irgendwie durchbewegen können.

Ein Mensch steht in einem Raum … und die Tatsache, dass da irgendwie eine Verbindung stattfindet, zwischen Mensch und Raum, dass der Mensch den Raum erkennen, durchqueren, sich selbst darin verordnen kann, das machen die Ohren möglich. Als Sinnesorgan vermittelt das Ohr ohnehin zwischen Innen und Außen, zwischen dem, was uns umgibt, und dem, was in uns stattfindet. Oder anders gesagt: Durch die Ohren hindurch findet das, was um uns herum passiert, dann irgendwie auch in unserem Inneren statt. Wir haben also nicht nur viel um die Ohren, das kommt auch alles zu uns herein. Kann aber ja zum Glück direkt zum anderen Ohr wieder herausgehen … Jean-Luc Nancy sagt: „Hören heißt in diese Räumlichkeit eintreten, von der ich zur selben Zeit durchdrungen werde: Denn sie öffnet sich in mir ebenso wie um mich herum, und von mir ebenso wie zu mir hin”.1 Das klingt schön. Kann aber auch Kopfschmerzen verursachen.
Ohren haben keine Lider. Das Ohr ist, wenn wir es nicht mit der Hand bedecken, immer offen. Wie eine Art offene Tür direkt neben unserem Gehirn. Nur im Flugzeug schließt es sich dann doch manchmal, das Ohr. Ich persönlich höre in diesem Moment sehr wenig. Ich bin vor zweieinhalb Stunden am wunderschönen Berliner Flughafen angekommen, und meine Ohren haben noch lange nicht das von mir sehnsüchtig erwartete *Plopp* gemacht. Das dauert in meinem Fall nämlich oft über 24 Stunden. Während dieser Zeit bewege ich mich halb taub durch mein Leben und leide. Manchmal bohre ich auch sinnlos mit Wattestäbchen in meinen Ohren herum. „Da schieben sie im besten Fall den Dreck weiter rein“, sagt dazu mein HNO-Arzt, den ich sehr empfehlen kann, auf Anfrage gebe ich gern Adresse und Kontaktdaten weiter. An Berliner*innen, die sich die Ohren einfach mal so richtig schön durchduschen lassen wollen. Allen, die im Flugzeug ähnliche Probleme mit dem Druckausgleich haben wie ich—heißt: die Ohren tun dann schrecklich, schrecklich weh—kann ich auch etwas empfehlen. Neben den Nasentropfen und den Kaugummis gibt es da nämlich noch einen brillanten Trick: hysterisches Heulen. Irgendwie machen die Schluchzer alles frei im Kopf und im Ohr. Seitdem ich eine Fernbeziehung führe, fliege ich oft schmerzfrei. Singen hilft auch, ich bin mir nicht sicher, welche der beiden Varianten für die Mitfliegenden erträglicher ist.

Meine Ohren ploppen schließlich unter der Dusche. Ich setze mich auf den Balkon, schließe für einen Moment die Augen und versuche, einfach nur alles das zu hören, was es da zu hören gibt: Ein tiefes Brummmmm und ein scharfes Tzzz und eine helle Stimme und eine aufgeregte Stimme und kurz hintereinander viele Töne und Bass und der Wind und ein dumpfes Geräusch und ein leises Klingeln und ein rhythmisches Patsch, Patsch…
Aber so nehme ich das natürlich nicht wahr, in Wirklichkeit denke ich immer direkt: Ein Motorrad, irgendein Gerät auf der Baustelle unten, eine Frau ruft nach ihrem Hund und eine Frau ruft nach ihrem Kind, in einem vorbeifahrenden Auto läuft Cardi B, die Wäsche ist bestimmt bald trocken und ist das mein Handy im Schlafzimmer und jemand läuft in Flip Flops durch die Küche.
Gehör und Gehirn kategorisieren meine Geräuschkulisse so schnell, so zuverlässig, so gut, dass es beinahe unmöglich erscheint, zu hören, ohne zu ordnen. Oder anders: Ich kann beinahe nichts vernehmen, ohne (vermeintlich!) sofort zu verstehen, was für eine Ursache dahintersteckt.

Mit zwei Ohren hat versehn
Heinrich Heine, Zur Teleologie, Auszug
Uns der Herr. Vorzüglich schön
Ist dabei die Symmetrie.
Sind nicht ganz so lang wie die,
So er unsern grauen braven
Kameraden anzuschaffen.
Ohren gab uns Gott die beiden
Um von Mozart, Gluck und Haydn
Meisterstücke anzuhören –
Gäb es nur Tonkunst-Kolik
Und Hämorrhoidal-Musik
Von dem großen Meyerbeer,
Schon ein Ohr hinlänglich wär! –
Das hat Heinrich Heine irgendwann zwischen 1845 und 1856 geschrieben, aber nicht veröffentlicht. Der ‘große’ Giacomo Meyerbeer und Heine waren eigentlich ganz gute Freunde, 1835 hatte Heine dem Komponisten noch „Sympatie für das verwandte Genie” zugesichert. Freundschaften allerdings sind eine komplizierte Sache, ebenso wie das mit dem Gehör eine komplizierte Sache ist (und das mit den musikalischen Meisterstücken). Was haben Freundschaften und Opern gemeinsam? Tiefe Gefühle sind im Spiel, und manchmal gibt es da eine tragische Erfahrung. Außerdem gibt es weder Musik noch Freundschaft ohne jemanden, der zuhört.
Ganz Ohr für etwas oder jemanden sein, das ist, sagt zumindest Jean-Luc Nancy, gerade dann möglich, wenn wir uns gleichzeitig nach Innen und Außen öffnen.2 Also bei sich sein, aber auch beim anderen. Ein offenes Ohr und ein offenes Gehirn. Hören ist nicht automatisch Zuhören, und schon gar nicht gleich Verstehen. Auch wenn wir auf Englisch schlicht “I hear you” sagen, um Verständnis auszudrücken. Aber das impliziert wohl, dass wir mehr tun, als die Geräusche zu vernehmen, die unser Gegenüber macht, wenn gesprochen wird.
Besonders gut zuhören kann Momo bei Michael Ende. Momo ist ein Kind ohne festes Dach über dem Kopf, Momo geht nicht zur Schule, und niemand weiß, wo genau Momo eigentlich hergekommen ist, aber alle Leute gehen mit ihren Problemen zu Momo. Und zwar eben nicht, weil Momo jemals eine Lösung für irgendein Problem gehabt hätte, sondern weil Momo nichts tut als einfach nur innig und wirklich zuzuhören. Michael Endes Roman ist vor allem eine Geschichte über Zeit und die menschliche Wahrnehmung von Zeit. Was auch immer genau Zeit ist und voraussetzt, es braucht notwendigerweise Zeit, um zu hören oder zu verstehen.
Sagt ein Mann in einer Selbsthilfegruppe: “When people think you’re dying, they really, really listen to you, instead of just—”, und wird von einer Frau unterbrochen: “Instead of just waiting for their turn to speak?”
Der Dialog findet statt in David Finchers Fight Club. Das ist ein Film, in dem Brad Pitt als Tyler Durden seinen Bekannten dazu auffordert, ihn einfach irgendwo hin zu hauen, egal wohin. Einen Moment später sagt Tyler Durden entgeistert: “You hit me in the ear!”
Ohren sind empfindlich. Ohren werden stark beansprucht. Ohren vermitteln zwischen Mensch, Raum und Zeit. Und Ohren spielen häufig eine ganz besondere Rolle in der Beziehung von Mann zu Mann. Bei van Gogh und Gauguin. Bei Heine und Meyerbeer. Bei Tyler Durden und, ähm … dem anderen Mann in Fight Club. Oder auch bei den beiden Protagonisten der Erfolgskomödie Intouchables, in Deutschland veröffentlicht unter dem Titel Ziemlich beste Freunde (2011). In diesem Film freunden sich ein wohlhabender Tetraplegiker und sein weniger wohlhabender Pflegehelfer miteinander an. Und in einer Szene des Films wollen beide erotische Dienstleistungen beanspruchen (eine gängige Bonding-Aktivität zur Stärkung der freundschaftlichen Bande). Wer denkt, dass es für Tetraplegiker*innen nicht viel an Erotik zu erleben gibt, lernt hier, dass auch eine Ohrmassage ein sexuelles Ereignis sein kann.
Es lohnt sich ja immer mal wieder, festzustellen, dass sich Sex nicht auf den Unterleib beschränken lässt. Auch bei den Ferengi vom Planeten Ferenginar ist die Sexualpraktik Oo-mox weit verbreitet. Hierbei handelt es sich um eine Massage der Ohren, vor allem der Ohrläppchen, zusätzlich kann aber auch das Trommelfell gekitzelt und ein Gehörnerv angeknabbert werden. Aber nicht nur bei Star Trek und im Kino, sondern auch auf durex.de wird sanftes Beißen am Ohrläppchen empfohlen. Und auch für diejenigen, die nicht vom Planeten Ferenginar kommen und weder Zungen noch Zähne noch Hände in der Nähe ihrer Ohren wissen wollen—Ohren sind trotzdem gut beim Sex. Weil es nämlich ganz nützlich ist, zu hören, wie die oder der andere stöhnt, oder flüstert, oder schreit … oder gerade „Nein” sagt.
LEKTORIERT VON Jan Kabasci.
Jetzt lesen: Fleisch & Fragmente. Die Körperteil-Kolumne. Kapitel I: Der Fuß
Jetzt lesen: Fleisch & Fragmente. Die Körperteil-Kolumne. Kapitel II: Der Nacken
Jetzt lesen: Fleisch & Fragmente III: Das Knie
Fußnoten
1 Nancy 2010: 23, Hervorhebung wie im Original.
2 Ebd.
Quellen
Nancy, Jean-Luc. Zum Gehör, übersetzt von van der Osten. Zürich, Diaphanes, 2010.
Ende, Michael. Momo. Stuttgart, Thienemann-Esslinger, 2023.
Fincher, David (1999): Fight Club [Film], Vereinigte Staaten von Amerika: 20th Century Fox.
Lynch, David (1986): Blue Velvet [Film], Vereinigte Staaten von Amerika: De Laurentiis Entertainment Group.
Tarantino, Quentin (1992): Reservoir Dogs [Film], Vereinigte Staaten von Amerika: Miramax Films.