Architektur und Ideologie (1): Was ist Architektur?

von Mer­cy Ferrars

Berlin ist eine zer­ris­sene Stadt; ein­er­seits geprägt von Leer­räu­men und Brachen, von dem was fehlte, von dem was vergessen wurde, von vielle­icht gar überse­henen Men­schen und Geschicht­en. Auf der anderen Seite find­en sich Men­schen und ihre Geschicht­en über­all in der Stadt, man kann ihnen kaum entkom­men. Spätestens seit dem Mauer­fall ver­fall­en in Berlin so viele Gebäude, dass Urban Explo­ration Guides ent­standen sind, die die span­nend­sten vergesse­nen Orte anpreisen und ihre Geschichte zusam­men­tra­gen. Diese Orte sind Relik­te der Zeit, in der sie erbaut wur­den. Sie zeu­gen nicht nur von Epochen von Kun­st und Stil, son­dern dien­ten in der Regel auch bes­timmten Zweck­en. Die Ide­olo­gien, für die die Gebäude entwed­er über­haupt erst errichtet oder für die sie im Rah­men später­er Zwecke miss­braucht wur­den, lassen sich manch­mal noch an der physis­chen Struk­tur selb­st able­sen, manch­mal sind von der Ver­gan­gen­heit nur noch his­torische Berichte übrig geblieben. 

Berlin ist eben­falls ein Parade­beispiel für das Zusam­men­spiel von Architek­tur und Gesellschaft, wobei keines von bei­dem lange ohne das andere beste­hen kann. Die Architek­tur bed­ingt sich durch men­schliche Akteure, die sie erbauen und bewohnen; durch ihre Hand wird sie ent­wor­fen und belebt; aber der Men­sch braucht auch die Architek­tur auf sehr unmit­tel­bare Weise: als Schutz und Zuflucht; für util­i­taris­tis­che, soziokul­turelle und poli­tis­che Zwecke oder als kul­turellen Aus­druck von Ästhetik und Denkweise. Architek­tur ist wed­er reines Bauen noch reine bildende Kun­st. Sie liegt irgend­wo in der Mitte zwis­chen Men­schen, Ide­olo­gien und der Kun­st. Dabei ist sie immer ein direk­ter Aus­druck der Zeit, in der sie errichtet wird und des anthro­pol­o­gis­chen Ver­ständ­niss­es, welchem sie sich verpflichtet. Was ist es also in der Beziehung zwis­chen Architek­tur und Gesellschaft, was so einzi­gar­tig ist? 

In dieser Artikel­rei­he gehe ich der Verzah­nung von Architek­tur und Gesellschaft­side­olo­gie nach, welche sich in ein­er syn­er­getis­chen Beziehung zueinan­der befind­en.
In dieser Folge: Was ist eigentlich Architektur?

Architektur als Dienst am Menschen: Mackintoshs humanitäres Design

Es scheint eine ein­fache Frage zu sein, und doch wird sie unter Architekt*innen, Kulturtheoretiker*innen und in der Öffentlichkeit kon­tro­vers disku­tiert: Was ist Architek­tur? Man wird ihr nicht gerecht, indem man sie auf den bloßen Prozess des Erbauens reduziert; aber Architek­tur ist auch keine tra­di­tionelle Kun­st wie die Malerei. Malerei, Bild­hauerei oder mod­erne Fotografie existieren nicht aus ein­er Notwendigkeit her­aus, sie dienen der Sym­bo­l­ik und Ästhetik. Ihr unmit­tel­bar­er Nutzen ver­lei­ht der Architek­tur hinge­gen eine Dringlichkeit, die den darstel­len­den Kün­sten fehlt. Jedoch ist Architek­tur auch keine bloße Schutz­maß­nahme, denn sie baut auf Design auf — und gutes Design ist niemals nur prak­tisch oder nur schön, son­dern eine Ver­schmelzung dieser Aspek­te. Wir dür­fen nicht vergessen, dass Design niemals bloß in der The­o­rie verbleibt — sei es Pro­dukt- und Kom­mu­nika­tions­de­sign, Innenar­chitek­tur oder Mod­edesign, immer reagiert Design auf äußere Bedürfnisse und eine gewisse funk­tionale Zweck­mäßigkeit. Wäre Architek­tur nur ästhetisch ohne jegliche Funk­tion­al­ität, würde sie, wie die Malerei, zu ein­er bilden­den Kun­st. Aber was ist nun Architektur?

Eine schöne Darstel­lung der Architek­tur und ihrer Auf­gabe gibt der schot­tis­che Architekt Charles Ren­nie Mack­in­tosh (1868 — 1928) in The Archi­tec­tur­al Papers, ein­er Samm­lung von Mack­in­toshs einzi­gen bekan­nten Vorträ­gen über Architek­tur zu seinen Lebzeit­en, die 1990 post-mortem von Pamela Robert­son — Senior-Kura­torin an der Hunter­ian Art Gallery (Uni­ver­sität Glas­gow) — veröf­fentlicht wurde. Der in Glas­gow geborene Mack­in­tosh war nicht nur Architekt, son­dern auch Innenar­chitekt und Maler; ein Pio­nier des Jugend­stils, berühmt für seine einzi­gar­ti­gen Entwürfe — stark bes­timmt von flo­ralen Motiv­en, recht­en Winkeln und bee­in­flusst von der tra­di­tionellen schot­tis­chen Architek­tur. Sein größtes Werk, das ihm einen inter­na­tionalen Ruf ein­brachte, war der Entwurf der Glas­gow School of Art, die er auch selb­st besuchte. Dort lernte er seine spätere Ehe­frau und zwei Fre­unde ken­nen, mit denen er fol­glich die Künstler*innengemeinschaft The Glas­gow Four grün­dete, deren markan­ter ‘Glas­gow Style’ inter­na­tion­al bekan­nt wurde und großen Ein­fluss auf die entste­hende Jugend­stil­be­we­gung nahm. Mack­in­toshs Kar­riere war kur­zlebig, aber lei­den­schaftlich, obwohl er gegen Ende seines Lebens eine aufgewühlte Seele zu sein schien. In seinen Vorträ­gen ist Mack­in­toshs tiefe Liebe zur Architek­tur in jedem Wort zu spüren; das zutief­st human­itäre Engage­ment sein­er Kun­st wird laut und deut­lich zum Aus­druck gebracht. Im Jahr 2019 besuchte ich das Mack­in­tosh House, eine Rekon­struk­tion seines ehe­ma­li­gen Zuhaus­es in der Flo­rence Ter­race 6 in Glas­gow, das jet­zt in der Huntar­i­an Art Gallery der Uni­ver­sität Glas­gow zu besichti­gen ist. Alle Zim­mer schienen mit ein­er solchen Sorgfalt und Absicht konzip­iert und von einem aus­geprägten Bewusst­sein dafür gestal­tet zu sein, wie sich eine Per­son durch die jew­eili­gen Räume bewe­gen würde, wie sie Licht und Schat­ten erleben würde, aber auch was sie von jedem Wohn­raum benöti­gen würde.

Im Erdgeschoss fand ich zuerst einen schö­nen Kor­ri­dor, der sich von der Ein­gangstür aus erstreck­te. Durch das Fen­ster der Haustür fiel das Licht auf eine ganz beson­dere Weise, so dass ich ste­hen blieb und staunte, während ich beobachtete wie es sich an den Wän­den brach, sich in dem aufge­hängten Spiegel reflek­tierte und den ganzen Flur in eine ätherische, traumhafte Atmo­sphäre tauchte. Von dort aus lag das Essz­im­mer zu mein­er linken Hand, aus­ges­tat­tet mit einem schmalen, aber lan­gen Holztisch, Mack­in­toshs berühmten Stühlen mit den lan­gen Rück­en­lehnen, dun­klen, schw­eren Schränken und braunem Pack­pa­pi­er an den Wän­den, auf das ein Sch­ablo­nen­dekor rosa­far­ben­er Rosen gemalt war. Das Schlafz­im­mer in der 3. Etage glich ein­er „Sin­fonie aus Licht und Raum.“ Ein geräu­miges, L‑förmiges Zim­mer, ganz in Weiß gehal­ten — meine Wahrnehmung wurde von Licht durch­flutet, von Hoff­nung, von Leichtigkeit. Sofort fühlte ich mich, als hätte ich die Trance der Dunkel­heit der unteren Etage ver­lassen und wäre stattdessen in einen men­tal­en Zus­tand der Klarheit einge­treten. Trotz seines strahlen­den Weiß fühlte sich der Raum nicht etwa klin­isch an: Mack­in­tosh gelang es, trotz all dieser Hel­ligkeit Wohn­lichkeit herzustellen. In der ober­sten Etage fand ich dann ein Gästez­im­mer, das wiederum eine ganz andere Atmo­sphäre ausstrahlte als die anderen Stock­w­erke. Es fühlte sich erd­ver­bun­den­er und schlichter an, die Möbel und Stoffe waren wun­der­bar aufeinan­der abges­timmt. Mack­in­tosh ging auch hier auf die Bedürfnisse der Bewohn­er ein und ent­warf einen beruhi­gen­den, ver­wurzel­ten, ein­laden­den Raum zum Schlafen und Aus­ruhen. Das Mack­in­tosh House lässt seine Besuch­er den human­itären Ansatz in Mack­in­toshs Werk aus erster Hand erfahren, und hat mich von sein­er Aus­rich­tung hin­sichtlich der Def­i­n­i­tion von Architek­tur überzeugt. In sein­er Arbeit erwäh­nt Mack­in­tosh häu­fig andere Architekt*innen und Kulturtheoretiker*innen und bezieht sich auf deren Arbeit, denn natür­lich sind seine Ideen nicht alle radikal neu. Jedoch ist sein Ver­ständ­nis davon, warum wir Architek­tur (die er übri­gens gerne kurz „Archi“ nen­nt) entwer­fen, und wie wir Architek­tur pla­nen, von erfrischend phil­an­thropis­ch­er Natur.

“Am Anfang ist [Architek­tur] nicht Bauen. (…) in diesem Sinne hört Archi auf, eine der schö­nen Kün­ste zu sein. (…) Die Geschichte der Architek­tur, wie sie üblicher­weise mit ihrer The­o­rie der util­i­taris­tis­chen Ursprünge aus der Hütte & dem Grab­hügel geschrieben wird, (…) ist eher die Geschichte des Bauens, der Architek­tur in dem Sinne, wie wir das Wort so oft benutzen, aber nicht die Architek­tur, die die Syn­these der schö­nen Kün­ste, die Kom­mune aller Handw­erke ist. (…) Die Architek­tur durch­dringt dann das Bauen nicht zur Befriedi­gung der ein­facheren Bedürfnisse des Kör­pers, son­dern der kom­plex­eren des Intellek­ts. (…) Und so (…) sind (…) Architek­tur & Bauen ganz klare und unter­schiedliche Vorstel­lun­gen die Seele & der Kör­p­er.” Für Mack­in­tosh “(…) war alle große & lebendi­ge Architek­tur der direk­te Aus­druck der Bedürfnisse & Überzeu­gun­gen des Men­schen zur Zeit ihrer Entstehung (…).” 

Was ist dann Architek­tur? Wenn Gothe sie ‘eine ver­stein­erte Reli­gion oder Madame de Stael ‘gefrorene Musik’ nen­nt, dann haben sie mit Dichtern & Red­nern aller Zeit­en gemein­sam, dass sie nur als eine Bildende Kun­st betra­chtet wird, aber eine gerechtere, weil umfassendere Beschrei­bung ist die Sir Gilbert Scotts, wenn er sagt: ‘Die Architek­tur unter­schei­det sich darin von den Schwest­erkün­sten Malerei & Skulp­tur, während sie direkt aus kün­st­lerischen Inspi­ra­tio­nen unser­er Natur entste­hen, abge­se­hen von prak­tis­ch­er Notwendigkeit oder Nüt­zlichkeit, erwächst [die Architek­tur] aus der Notwendigkeit & dann aus dem Wun­sch, das Ergeb­nis mit Schön­heit zu bek­lei­den. (…) Ja, Archi ist eine schöne, aber auch eine nüt­zliche Kun­st. (…) “Wir müssen mod­erne Ideen in ein mod­ernes Gewand klei­den — unsere Entwürfe mit lebendi­ger Phan­tasie schmück­en. Wir wer­den Entwürfe von leben­den Men­schen für lebende Men­schen haben — etwas, das die frisch gewonnene Erken­nt­nis einiger heili­gen Tat­sache aus­drückt — des per­sön­lichen Grü­belns über das Kön­nen — der Freude an der Natur in der Anmut der Form & der Fröh­lichkeit über die Farbe.

Charles Ren­nie Mack­in­tosh — The Archi­tec­tur­al Papers

Was konstituiert die Architektur?

Mack­in­tosh zählt Struk­tur, Nüt­zlichkeit und Schön­heit als kon­sti­tu­tive Ele­mente der Architek­tur auf – eine Tri­ade, die sich bis in die Antike zurück­ver­fol­gen lässt. In den Zehn Büch­ern über die Architek­tur, ein­er der einzi­gen über­liefer­ten Schriften des antiken Rom, erk­lärt der Architekt Mar­cus Vit­ru­vius Pol­lio (81 v.Chr. — 15 v.Chr.), dass alle Gebäude, ob sie nun zu Verteidigungs‑, religiösen oder human­itären Zweck­en errichtet wur­den, “in Bezug auf Dauer­haftigkeit, Zweck­mäßigkeit und Schön­heit gebaut wer­den müssen. Dauer­haftigkeit ist gewährleis­tet, wenn die Fun­da­mente auf den fes­ten Unter­grund getra­gen wer­den und die Mate­ri­alien klug und frei gewählt sind; Zweck­mäßigkeit, wenn die Anord­nung der Woh­nun­gen ein­wand­frei ist und die Benutzung nicht behin­dert (.…); und Schön­heit, wenn das Ausse­hen des Werkes gefäl­lig und geschmack­voll ist und wenn seine Mit­glieder nach kor­rek­ten Sym­me­trieprinzip­i­en in den richti­gen Pro­por­tio­nen sind.” Später definiert der Brite John Ruskin — führen­der vik­to­ri­an­is­ch­er Kun­stkri­tik­er, Sozialthe­o­retik­er und selb­st auch Kün­stler — Architek­tur schlicht und ein­fach als die “Kun­st, die die vom Men­schen zu welchem Zweck auch immer errichteten Bauw­erke so anord­net und schmückt, dass ihr Anblick zu sein­er geisti­gen Gesund­heit, Kraft und Freude beiträgt” in seinem Werk Die Sieben Lam­p­en der Architek­tur (1849). Deut­lich wird, dass Ruskins Sicht der Architek­tur Mack­in­toshs gle­icht, welch­er sich in der Tat in seinen Vorträ­gen häu­fig auf Ruskin bezog. Ruskins architek­tonis­che Prä­gung ist sowohl human­itär­er als auch ide­ol­o­gis­ch­er Art, da sie die Architek­tur in den Dienst des men­schlichen Geistes und der men­schlichen Bedürfnisse stellt, aber sie lässt die Her­vorhe­bung der Architek­tur als Aus­druck von Macht nicht außen vor. 

Schließlich schlägt Ruskin die “sieben Lam­p­en der Architek­tur” vor. Darunter befind­en sich

Wahrheit. Die Aufrichtigkeit von Handw­erk und Moral.

Macht. Als Gegen­stück zur „Schön­heit” eines Bauw­erks drängt die Macht das Majestätis­che, das Große auf und sucht zu regieren. Wo Macht herrscht, ver­schwindet die Schön­heit, und wo Schön­heit sich durch­set­zt — Schön­heit, nach dem Bild der Natur geschaf­fen, zum Schmück­en hergestellt, darum bit­tend, ange­betet, bewun­dert und gemocht zu wer­den — löst sich Macht auf. Ruskin nen­nt Größe, Form, Gewicht und Schat­ten als bes­tim­mende Ele­mente der Macht ein­er Struktur.

Schön­heit. In all ihren Auf­fas­sun­gen durch die Zeit.

Architek­tur kann also entwed­er human­itär oder nutzbrin­gend gedacht wer­den. Für die Ide­al­istin ste­ht sie stets im Dien­ste der Men­schlichkeit. Angepasst an men­schliche Bedürfnisse schme­ichelt sie dem men­schlichen Kör­p­er und Geist, indem sie den Men­schen führt, ihr Schutz gewährt und Schön­heit ausstrahlt. Für die Ide­olo­gin hinge­gen ist Architek­tur ein nutzbrin­gen­des Werkzeug, welch­es für eigene Zwecke miss­braucht wer­den kann; als Aus­druck von Macht, als Mit­tel der Unterdrückung.

Im näch­sten Artikel der Serie beschäftige ich mich mit der Syn­ergie zwis­chen Architek­tur und Ide­olo­gie am Beispiel der während der Indus­tri­al­isierung erbaut­en Berlin­er Miet­skaser­nen, des deutschen Städte­baus und ver­lassen­er Orte.


Quellenangaben:

Fiell, C., & Fiell, P. (2004). Charles Ren­nie Mack­in­tosh. Köln: Taschen.

Pol­lio, V., Mor­gan, M. H., War­ren, H. L., & Robin­son, N. (2008). Vit­ru­vius: The Ten Books on Archi­tec­ture. Cam­bridge: Har­vard Uni­ver­si­ty Press.

Robert­son, P., & Mack­in­tosh, C. R. (1990). Charles Ren­nie Mack­in­tosh: The Archi­tec­tur­al Papers. Wendle­bury: White Cockade.

Ruskin, J. (n.d.). THE SEVEN LAMPS OF ARCHITECTURE. Retrieved August 13, 2020, from https://freeditorial.com/en/books/the-seven-lamps-of-architecture/related-books

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