INSTALLATION / ROBOTIC ART

Erzählungen unserer Zeit: Sun Yuan & Peng Yus “Can’t Help Myself”
Künstler*in
Sun Yuan & Peng Yu
Jahr
2016
Land
China, USA
Format
Performative Installation / Robotic Art
Ausstellung
Tales of our Time / Solomon R. Guggenheim Museum, New York
Material
KUKA Industrieroboter, farbige Flüssigkeit, Cognex Sensoren zur visuellen Erkennung, Polycarbonatwand mit Aluminiumrahmen, TL-Licht
Dimensionen
variieren

BY MERCY FERRARS
New York/The Guggenheim: Ein Roboter in einem Glaskäfig versucht sich drei Jahre lang am Leben zu erhalten. Am Ende seiner Kraft liegt eine absurde Erkenntnis.
IM JAHR 2016 gab das Guggenheim Museum in Manhattan, New York, eine besondere Installation in Auftrag. Für die Ausstellung Tales of our Time (“Erzählungen unserer Zeit”) entwarfen die beiden chinesischen Künstler Sun Yuan & Peng Yu—bereits für umstrittene Werke wie zum Beispiel das Video Dogs That Cannot Touch Each Other (“Hunde, die sich nicht berühren können”) aus dem Jahr 2003 bekannt—einen einarmigen Industrieroboter, der seine Lebenszeit damit verbringt, eine rote Flüssigkeit aufzuwischen, welche aus ihm heraus sickert. Zeitgleich versucht er seine Zuschauer*innen durch kleine Tanzeinlagen zu unterhalten. Die Installation, die den Titel Can’t Help Myself trägt, regt zum Nachdenken an. Sie vermittelt eine voyeuristische Funktion, indem sie die Sensationslust des Publikums anspricht und es in den intimen, privaten Moment eines erbitterten inneren Kampfes einlädt. Darüber hinaus dient sie aber auch als Spiegel, welcher die Lebenswelt der Betrachter*innen reflektiert. Nach drei Jahren kommt sie 2019 schließlich zum Stillstand. Die an den Mythos des Sisyphos anklingende Installation hat vergangenes Jahr unter Usern verschiedener Social Media Plattformen eine starke Resonanz ausgelöst. Es braucht ausgerechnet einen Roboter, um uns unsere Menschlichkeit erkennen zu lassen—eine Lektion über Isolation, Mechanisierung und aufbegehrende Leidenschaft.

Die Installation
Hinter klaren Acrylwänden platzieren Yuan und Yu einen KUKA Industrieroboter mit nur einem robotischen Arm. KUKA Industrieroboter werden gewöhnlich für repetitive Fertigungsaufgaben in der Automobilindustrie sowie in der Luft- und Raumfahrtindustrie eingesetzt. In Can’t Help Myself sickert aus dem Roboter beharrlich eine tiefrote Flüssigkeit, die für ihn unerlässlich zu sein scheint. Läuft sie zu weit aus, wischt er sie rasch auf—und wirkt dabei seltsam eilig und regelrecht panisch. Dabei beschmiert er den Boden, tiefrote Spritzer besprühen die Wände—eine Szene, die an einen Tatort erinnert. Bevor der Roboter die auslaufende Flüssigkeit auf der einen Seite vollständig aufwischen kann, ergießt sie sich unerbittlich bereits wieder auf der anderen Seite. Eine nahezu geschlossener Kreislauf, in welchem sich Anfang und Ende gegenseitig bedingen. Wo die Fixpunkte schwinden, scheinen die Handlungen des Roboters zunehmend absurder. Seine Programmierung lässt ihn dennoch weiterdrehen. Ebenfalls programmiert, sind zweiunddreißig Tanzeinlagen, die er von Zeit zu Zeit als unterhaltsame Zugabe präsentiert. Das Publikum betrachtet das Spektakel und legt sich als transzendentale Bedeutungsebene um den Glaskäfig: durch den Blick von Außen analogisiert sich der Roboter im Inneren zum Abbild des Menschen selbst. Es ist die menschliche Lebenserfahrung, welche die Szene im Käfig anthropomorphisiert.
“Can’t Help Myself”
Can’t Help Myself ist eine sorgfältig durchdachte Analogie. Kein Element bleibt dem Zufall überlassen. Indem jede*r Einzelne sich dazu entschließt aktiv an der Beobachtung des Roboters teilzunehmen, betritt sie damit den Raum des Kunstwerks selbst und wird zu einem zentralen Element desselben. Can’t Help Myself ist auf den Blick von außen angewiesen, um zu wirken. Auch der Titel der Installation rund um ihren “ausblutenden” Industrieroboter haben Yuan und Yu nicht dem Zufall überlassen. Can’t Help Myself kann entweder bedeuten: “Ich kann mir nicht helfen”—oder “Ich kann nicht anders.” Für die beiden Künstler repräsentiert die Installation “die Folgen des Autoritarismus, der von bestimmten politischen Agenden geleitet wird, die darauf abzielen, mehr Grenzen zwischen Orten und Kulturen zu ziehen, und den zunehmenden Einsatz von Technologien zur Überwachung unserer Umwelt.” Für mich und viele User, die im vergangenen Jahr online auf die Installation stießen, entsteht in ihr eine Analogie zum Leben im Kapitalismus, welches durch drei Elemente in Can’t Help Myself verdeutlicht wird.
Erstens, die tiefrote Flüssigkeit die dem Roboter entläuft, evoziert in der Betrachterin das Bild von Blut. Auch die Überzeugung des Roboters, dass er die Flüssigkeit unbedingt rasch aufwischen muss, erinnert an die Funktion von Blut als Quelle des Lebens. Zweitens, seine Sisyphosaufgabe—eine zyklische Arbeit, in der Anfang und Ende ineinanderfließen—liest sich als Metapher des Überlebens im Kapitalismus. So wie sich der Roboter pausenlos dreht und sich selbst erschöpft, nur um sich am Leben erhalten zu können, so gehen wir jeden Tag arbeiten, verkaufen unsere Lebenszeit und unsere Körper an diejenigen, die Reichtum anhäufen, und erschöpfen uns weit über unsere Grenzen hinaus. Drittens, die zweiunddreißig Tanzbewegungen, die der Roboter zusätzlich dem Publikum vorführt, spiegeln unsere Überzeugung, dass die Erschöpfung unserer Zeit und unserer Körper nicht genügt, sondern wir außerdem eine normative Fassade aufrecht erhalten müssen. Auch außerhalb der Lohnarbeit gelten wir nur als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, wenn wir Ziele verfolgen, uns vergeben, uns lebenslänglich produktiv halten.
Wie der KUKA Roboter im Herzen der Installation ergeben sich im Kapitalismus viele Menschen ihrem Schicksal. Wie Roboter, programmiert und reguliert vom kapitalistischen Gesellschaftsdoktrin, folgen sie einem Kreislauf aus Kommodifizierung und Materialismus. Albert Camus, welcher in seinem Werk Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde (1942) im Rahmen der Existentialphilosophie Überlegungen zum Sinn des Lebens anstellte, akzentuiert eine gewisse mechanische Unschuld im Unwissen über die Absurdität des Lebens. Der Mensch, sorgfältig eingebettet in den zyklischen Mechanismus des Kapitalismus, scheint sogar fast zufrieden zu sein in dieser Rotation. Erst mit dem Moment des Erwachens, der dämmernden Erkenntnis der eigenen Situation, wird das wahre Elend aufgedeckt. Von nun an wird er mit einer Sorge konfrontiert, die zuvor in seliger Unwissenheit verborgen war:
“Manchmal stürzen die Kulissen ein. Eines Tages […] erhebt sich das “Warum”, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an. […] Der Überdruss steht am Ende der Handlungen eines mechanischen Lebens, gleichzeitig leitet er aber auch eine Bewusstseinsregung ein”, schreibt Camus.
In seiner Mechanität folgt der Mensch also einem gesellschaftlichen Muster, das er kaum bis gar nicht hinterfragt. Er ist der Roboter im Glaskäfig, der seiner widersprüchlichen Lebensaufgabe nachgeht. Erst als er durch einen plötzlichen Bruch in seinen mechanischen Wiederholungen von seiner Position innerhalb des Käfigs zum Zuschauer außerhalb des Käfigs wird, er sich aus einer inneren Blindheit zu einer äußeren Erkenntnis erhebt, sehnt er sich plötzlich nach einem Daseinssinn. Zu diesem Zeitpunkt könnte er dreißig Jahre alt sein, oder fünfzig, oder achtzig. Einerseits könnte von Glück gesprochen werden, wenn die Einzelne diesem Überdruss nicht begegnet. Andererseits liegt nur in der Auseinandersetzung mit diesem Überdruss die Möglichkeit die wahre Freiheit der Selbstbestimmung zu erfahren. Doch wird dieses Unterfangen erschwert, sogar gefährlich, da weder die Welt noch das Universum der einzelnen Antworten an die Hand geben können.
“Der Mensch steht dem Irrationalen gegenüber. Er spürt in sich seine Sehnsucht nach Glück und nach einem vernünftigen Grund. Das Absurde entsteht aus dieser Konfrontation zwischen dem menschlichen Bedürfnis und der unvernünftigen Stille der Welt”, schreibt Camus. “Es ist diese Scheidung zwischen dem Geist, der begehrt, und der Welt, die enttäuscht, meine Sehnsucht nach Einheit, dieses zersplitterte Universum und der Widerspruch, der sie zusammenhält.”
Camus schlägt vor, in diesem Widerspruch zu leben und der eigenen Welt, dem eigenen Leben folglich autark eine Bedeutung zuzuweisen, die nicht von einem höheren Universum stammt.
Can’t Help Myself baut sich in drei bedeutungsvollen Schichten semantischer Symbolik auf. Die erste Schicht ist direkt wahrnehmbar: Der Roboter, eingeschlossen im Glaskasten in dem er monoton seiner Aufgabe nachgeht und tanzt, bis er zum Stillstand kommt. Die zweite Schicht ist der Blick von außen, die einzelnen Zuschauer*innen, die sich förmlich um den Glaskäfig legen und in dieser Situation die Schwere ihrer eigenen Existenz erkennen. Die dritte Schicht ist der Blick der Welt auf Installation und Publikum in Form der zahlreichen User durch Computer- und Handybildschirme; isoliert in dunklen Wohnungen. Die Einsamkeit im Käfig, kontrastiert durch die beobachtenden Gemeinschaft außerhalb des Käfigs, spiegelt sich in den vereinzelten Social Media Userinnen wider. Die User richten ihren Blick auf die als einsam lesbare Mechanität eines Roboters, tragen die Stoßwirkung seiner affektiven Ladung jedoch mit sich selbst aus. Sein Video wird in einen leeren virtuellen Raum “geteilt”. Ein Teilen, dass sich aufgrund des Fehlens einer bestimmten Empfängerin in der Weite des virtuellen Raumes verliert. Die Empfängerin verschwindet in der anonymen Vielzahl der User, die dadurch die nachempfundene Vereinsamung des Roboters im Glaskäfig nicht überwinden können, sondern stattdessen diese Vereinsamung vor ihren Bildschirmen wiederholen. Die Partizipation in sozialen Medien und der Zugang zu so vielen Menschen widerspricht sich in der zunehmenden Einsamkeit, die sich daraus entwickelt. Ruft Camus in die Welt und die Welt schweigt, so teilen wir uns mit einem Raum, in dem wir uns mit anderen verbinden möchten und zurück tönt eine erdrückende Stille.

Am Ende liegt eine schmerzhafte Erkenntnis
Nach drei Jahren, in welchen sich der KUKA Roboter drehte und drehte, blutete und tanzte, wurde er schließlich langsamer. 2019 kam seine Arbeit zu einem Halt, als der robotische Arm seine Funktionstüchtigkeit verlor. Drei Jahre lang befand sich der Roboter in einem zermürbenden Zyklus zwischen der programmierten Erhaltung seiner Existenz und seines langsamen Ausblutens. Es war dieser Moment, der Can’t Help Myself einen Wendepunkt verlieh, denn während seines vermeintlichen Kampfes um Beständigkeit und seiner ermüdenden Versuche, seine Aufgabe zu erfüllen, bemerkte er eine Seltsamkeit nicht: Er brauchte die Flüssigkeit nie, die aus seinem Behälter austrat. Er wurde die ganze Zeit hindurch mit Elektrizität betrieben. Der einfache KUKA-Roboter, der für repetitive Industriearbeiten hergestellt wurde, konnte das nicht wissen. Er ist ein Roboter, er denkt und fühlt nicht. Die Emotionen, die die Zuschauer*innen beim Kampf des Roboters erleben, sind ihre eigenen. Warum also erkennen wir nicht, dass wir in einem unerbittlichen, ermüdenden Kreislauf gefangen sind, wenn wir doch über das notwendige Bewusstsein dazu verfügen? Und welche Konsequenzen könnten sich aus dieser Erkenntnis ergeben?
“Der absurde Mensch erblickt ein brennendes und kühles, transparentes und begrenztes Universum, in dem nichts möglich, aber alles gegeben ist, und über das hinweg alles Zusammenbruch und Nichtigkeit ist. Er kann sich dann entscheiden, ein solches Universum zu akzeptieren und daraus seine Kraft, seine Weigerung zu hoffen und den unnachgiebigen Beweis eines Lebens ohne Trost zu schöpfen”, schreibt Camus.
Also, schlussfolgert er, “stelle ich fest, dass alles in Ordnung ist.” In Can’t Help Myself wird der Moment dieses Erblickens deutlich, wenn sich das eigene Weltsystem als fremd und mechanisch offenbart und auf die Sinnfrage keine Antwort kennt. Was steht am Ende der Blutjahre? Wie begreift sich eine Existenz die sich ihrer selbst bewusst geworden ist, beschwert von blendenden Lichteinfällen, die offenlegen, wie die Dinge wirklich beschaffen sind? “Es geht darum, zu leben”, verkündet Camus, als läge in dieser Feststellung bereits das wie, die Aufhebung einer diffusen Rotation. Für ihn geht es im Wesentlichen darum, alles aufzubrauchen, was das physische Universum hergibt und zur Verfügung stellt, um seinen Leidenschaften nachzugehen: “Was zählt ist nicht das beste Leben, sondern das meiste Leben.” Der Mensch ist also derjenige, der das Leben sinnvoll gestaltet, der die Dimensionen seiner Tiefe, seiner Pracht und seines Inhalts gestaltet. Das erwartet Camus nicht von einem höheren Universum, ja nicht einmal von einem Gott. Er fordert auf, nicht dem Fehler zu folgen, der andere dazu bringt, ihren Verstand aufzugeben und ihre Berufung in die Hände einer Struktur zu legen, die im Grunde metaphysisch beeinträchtigt ist. “Wenn der Mensch erkennen würde, dass das Universum wie er lieben und leiden kann, wäre er versöhnt”, fügt Camus hinzu und spielt damit auf ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Elementen einer anthropozentrischen Welt an, die nicht hierarchisch geordnet, sondern einander ebenbürtig sind. Das bedeutet nicht, dass das Leben des Menschen auf irgendetwas hinauslaufen muss, dass es ein Ziel geben muss, auf das er zusteuert, sondern dass er sein Leben mit den Reichtümern füllen sollte, die sich ihm offenbaren, sobald er seine Leidenschaften in das aufnimmt, was er als seine Welt bezeichnet. Es ist schwer, außerhalb eines Systems zu existieren, das alle anderen einschließt. Schnell wirkt dieses System wie ein Fremddiktat. Aber Camus’ Leidenschaft weist darauf hin, dass wir in der Konfrontation mit dieser Welt immer über Handlungsfähigkeit verfügen. Wir können über die willkürliche Indifferenz unserer Existenz lamentieren, dabei liegt die Wahrheit doch eigentlich zu jeder Zeit schon in uns.

Die Negation einer Welt
Was bedeutet dieser drängende Appell nun für unser Leben im Kapitalismus? Je mehr man darüber nachdenkt, desto weniger ist die leidenschaftliche Revolte, die Camus in Le Mythe de Sisyphe propagiert und sein Aufruf zu einer Anhäufung von Lebenserfahrungen, zum “Aufbrauchen” der Welt, im Kapitalismus möglich. Sicher, je nach Lebensumständen und Persönlichkeitsmerkmalen wird die eine ihr Leben mit mehr Erfahrungen füllen können als die andere, auch wenn beide einen Großteil ihres Lebens in Lohnarbeit verbringen. Um die Zeit zu füllen, die außerhalb des Einflussbereichs der Lohnarbeit noch verbleibt, bedarf es Abenteuerlust. Diesen Kraftakt bewältigt nur ein Verstand, der in der Lage ist, sich ein erfülltes Leben vorzustellen, das jedoch von 1760 Stunden Selbstkommodifizierung pro Jahr durchdrungen und durchmischt ist. Diese Selbstkommodifizierung ist zum größten Teil nicht freiwillig, was meiner Meinung nach den eigentlichen Konflikt im Kapitalismus formuliert. Alternative Lebenswege sind möglich, erfordern aber wiederum Ressourcen und Verzichte, die zuerst aufzubringen sind und Verzichte, die man bereit ist, einzugehen. Der Spätkapitalismus geht nicht gerade mit einer Chancengleichheit einher, die diese Mittel verfügbar machen würde. Aber wo es nicht passt, muss es logischerweise anders gemacht werden. Was nützt es, Camus’ Idee der leidenschaftlichen Revolte, der Lebensbejahung, in das kapitalistische System zwingen zu wollen, wenn sie nicht recht zu passen scheint. Es bleibt also zu überlegen, in welche Richtung sich das Weltsystem entwickeln müsste, um diese Revolte zu ermöglichen. In Anbetracht der Gewalt, die insbesondere in das westliche Weltsystem der letzten zweihundert Jahre eingebaut ist, ist eine radikale Haltung die Idee des Zurücksetzens von allem, was ist. Auch wenn es wie eine radikale, unmögliche menschliche Aufgabe erscheint: Die Welt ist nicht in Stein gemeißelt. Die Dinge müssen nicht ewig so weitergehen, wie sie es jetzt tun. Es ist keineswegs undenkbar, dass Camus’ Revolte auch in einem leidenschaftlichen Glauben an eine Negation der Jetzt-Welt wurzeln könnte und zugleich dazu beiträgt alternative Lebensentwürfe zu gestalten.
Leidenschaft ist absurde Freiheit
Das Absurde ist zugleich menschenbezogen und losgelöst von menschengemachten Systemen. Es bedingt sich durch die Sinnfrage des Menschens, sein Begehren nach einem Grund—doch es bezieht sich nicht notwendigerweise auf den Kapitalismus oder andere Systeme. Sie können das Gefühl der Absurdität des eigenen Lebens lediglich verstärken. Was den Menschen im gleichen Maße an die Welt bindet und sie als fremd, geradezu sinnlos erscheinen lässt, ist das Absurde. Das Absurde kann sich also allein im Paradoxen bewegen. Innen und Außen, Fremd und heimisch, Ich und Nicht-Ich bilden polarisierende Spannungsverhältnisse, in denen das Leben ebenso prekär wie in seiner ganzen Fülle vibrierend, erfahrbar wird. Die Frage nach dem Warum, nach dem eigenen Platz im Kausaluniversum findet seinen Ursprung in der Bewusstseinsfähigkeit des Menschen. “Das Leben unter diesem erdrückenden Himmel zwingt einen dazu, wegzugehen oder zu bleiben”, schreibt Camus. Doch wer sich für das Weggehen und nicht für das Bleiben entscheidet, wird in diesem Versuch im Eskapismus scheitern. Camus identifiziert folgende eskapistische Praxen:
Die erste logische Konsequenz, die aus einer Begegnung mit dem Absurden hervorgeht, ist der Selbstmord—eine unvermeidbare Faustregel für den absurden Menschen. Ihn untersucht Camus ausgiebig zu Beginn of Le Mythe. Dem Rufen nach Bedeutung entgegnet Stille. Der Erkenntnis des Absurden entspringt mitunter Depression und Ratlosigkeit. Ein Sprung in den Suizid setzt dem Leiden ein Ende und beendet damit auch das Absurde. Doch Camus drängt darauf, dass ein guter Grund zum Sterben auch ein guter Grund zu leben sei. Es sei wahr, dass das Absurde an den Mensch gekettet sei und ohne ihn nicht bestehen würde, doch das Nehmen des eigenen Lebens begreift er als heftige Zurückweisung der eigenen Freiheit, als Kapitulation. Für Camus wurzelt die menschliche Existenz in diesem leidenschaftlichen Ringen.
Eine weitere Flucht aus dem Absurden ist für Camus der blinde “Sprung” in die Religion, welchen er sogar als “philosophischen Suizid” und als “Abtretung des eigenen Verstandes” bezeichnet: “Die Größe [Gottes] ist seine Widersprüchlichkeit. Sein Beweis ist seine Unmenschlichkeit. Man muss in ihn springen und sich durch diesen Sprung von rationalen Illusionen befreien.” Der Mensch überträgt die Eigenarten des Absurden auf seinen Gott, welcher folglich widersprüchlich und ungerecht sein muss, und verlangt von ihm eine Anweisung, ein Diktat nach welchem er zu leben hat. Ein Diktat welches ihm erklärt, wieso und wofür er lebt. Dass dieser Sprung zu Gott letztlich eine bloße Charade ist, wird deutlich: Das Absurde ist die Metaphysik des Menschen, und indem er es auf einen Gottesbegriff überträgt, tritt er somit auch seine Verantwortung ab. Dass dieser Sprung, diese Flucht, verlockend ist, zeigt sich in der Menschengeschichte sehr deutlich. Doch sie überdeckt das Problem nur, statt es zu lösen.
Aus dem Absurden zieht Camus drei Schlüsse, drei Konsequenzen: “meine Revolte, meine Freiheit und meine Leidenschaft.” Seine Revolte wurzelt in einer Aufbäumung gegen das Absurde, seine Freiheit in seiner Akzeptanz und seine Leidenschaft in den Erfahrungen, die das Universum eröffnet. Im Angesicht der Stille des Universums schreibt Camus schließlich in seinen Notizbüchern:
“Man muss Bedeutung finden. Melancholie von Traurigkeit unterscheiden. Mache einen Spaziergang. Es muss kein romantischer Spaziergang im Park sein, der Frühling in seiner spektakulärsten Phase, Blumen und Gerüche und herausragende poetische Bilder, die dich sanft in eine andere Welt versetzen. Es muss kein Spaziergang sein, bei dem du mehrere Lebenserfahrungen machen und Erkenntnisse erreichen musst, auf die kein anderes Gehirn je gestoßen ist. Habe keine Angst davor, Zeit mit dir selbst zu verbringen. Finde eine Bedeutung darin oder nicht, aber ‘stiehl’ dir etwas Zeit und gib sie dir aus freien Stücken und dir alleine. Entscheide dich für Privatsphäre und Alleinsein. Das macht dich nicht unsozial und führt nicht dazu, dass du den Rest der Welt ablehnst. Aber du musst atmen. Und du musst sein.”
Wenn wir den Roboter in seinem gläsernen Gehäuse um der affektiven Wirkung der Installation willen als den Menschen akzeptieren, der in ein mechanisches Leben eingesperrt ist, dann stellt das ihn umgebende Publikum den Moment der Erleuchtung dar. Und der Schock, die eigene sinnlose Existenz zu erkennen, sitzt unweigerlich tief. Camus greift die menschliche Erfahrung in genau diesem Moment auf. Er will wissen: Ist das Leben noch lebenswert? Und er kommt zu dem Schluss: “Ein guter Grund zu sterben ist auch ein guter Grund zu leben.” Aber wie kann man unter einer so unerträglichen Last weiterleben? Camus argumentiert, dass seine Leidenschaft und sein Widerstand gegen das betäubende Nichts das Leben des Menschen ausfüllen, der so wiederum seinem eigenen Leben einen Sinn verleiht. Wo Sisyphos seinen Felsen hinauf wuchtet, nur um ihn wieder hinunterrollen zu sehen, folgert Camus: “Man muss sich Sisyphos glücklich vorstellen.”
Camus, Albert. The Myth of Sisyphus. 17th ed., Penguin, 2005.
Lektoriert von Clemens Hübner mit Lara Helena
Cover Aleksandr Zykov/Flickr