INSTALLATION / ROBOTIC ART

Erzählungen unserer Zeit: Sun Yuan & Peng Yus “Can’t Help Myself”

Künstler*in
Sun Yuan & Peng Yu

Jahr
2016

Land
China, USA

Format
Performative Installation / Robotic Art

Ausstellung
Tales of our Time / Solomon R. Guggenheim Museum, New York

Material
KUKA Industrieroboter, farbige Flüssigkeit, Cognex Sensoren zur visuellen Erkennung, Polycarbonatwand mit Aluminiumrahmen, TL-Licht

Dimensionen
variieren

BY MERCY FERRARS

New York/The Guggenheim: Ein Roboter in einem Glaskäfig versucht sich drei Jahre lang am Leben zu erhalten. Am Ende seiner Kraft liegt eine absurde Erkenntnis. 

IM JAHR 2016 gab das Guggen­heim Muse­um in Man­hat­tan, New York, eine beson­dere Instal­la­tion in Auf­trag. Für die Ausstel­lung Tales of our Time (“Erzäh­lun­gen unser­er Zeit”) ent­war­fen die bei­den chi­ne­sis­chen Kün­stler Sun Yuan & Peng Yu—bereits für umstrit­tene Werke wie zum Beispiel das Video Dogs That Can­not Touch Each Oth­er (“Hunde, die sich nicht berühren kön­nen”) aus dem Jahr 2003 bekannt—einen ein­armi­gen Indus­trier­o­bot­er, der seine Leben­szeit damit ver­bringt, eine rote Flüs­sigkeit aufzuwis­chen, welche aus ihm her­aus sick­ert. Zeit­gle­ich ver­sucht er seine Zuschauer*innen durch kleine Tanzein­la­gen zu unter­hal­ten. Die Instal­la­tion, die den Titel Can’t Help Myself trägt, regt zum Nach­denken an. Sie ver­mit­telt eine voyeuris­tis­che Funk­tion, indem sie die Sen­sa­tion­slust des Pub­likums anspricht und es in den inti­men, pri­vat­en Moment eines erbit­terten inneren Kampfes ein­lädt. Darüber hin­aus dient sie aber auch als Spiegel, welch­er die Lebenswelt der Betrachter*innen reflek­tiert. Nach drei Jahren kommt sie 2019 schließlich zum Still­stand.  Die an den Mythos des Sisyphos anklin­gende Instal­la­tion hat ver­gan­ge­nes Jahr unter Usern ver­schieden­er Social Media Plat­tfor­men eine starke Res­o­nanz aus­gelöst.  Es braucht aus­gerech­net einen Robot­er, um uns unsere Men­schlichkeit erken­nen zu lassen—eine Lek­tion über Iso­la­tion, Mech­a­nisierung und auf­begehrende Leidenschaft.

wiltob / Flickr

Die Instal­la­tion

Hin­ter klaren Acryl­wän­den platzieren Yuan und Yu einen KUKA Indus­trier­o­bot­er mit nur einem robo­tis­chen Arm. KUKA Indus­trier­o­bot­er wer­den gewöhn­lich für repet­i­tive Fer­ti­gungsauf­gaben in der Auto­mo­bilin­dus­trie sowie in  der Luft- und Raum­fahrtin­dus­trie einge­set­zt. In Can’t Help Myself sick­ert aus dem Robot­er behar­rlich eine tiefrote Flüs­sigkeit, die für ihn uner­lässlich zu sein scheint. Läuft sie zu weit aus, wis­cht er sie rasch auf—und wirkt dabei selt­sam eilig und regel­recht panisch. Dabei beschmiert er den Boden, tiefrote Spritzer besprühen die Wände—eine Szene, die an einen Tatort erin­nert. Bevor der Robot­er die aus­laufende Flüs­sigkeit auf der einen Seite voll­ständig aufwis­chen kann, ergießt sie sich uner­bit­tlich bere­its wieder auf der anderen Seite. Eine nahezu geschlossen­er Kreis­lauf, in welchem sich Anfang und Ende gegen­seit­ig bedin­gen. Wo die Fix­punk­te schwinden, scheinen die Hand­lun­gen des Robot­ers zunehmend absur­der. Seine Pro­gram­mierung lässt ihn den­noch wei­t­er­drehen. Eben­falls pro­gram­miert, sind zweiund­dreißig Tanzein­la­gen, die er von Zeit zu Zeit als unter­halt­same Zugabe präsen­tiert. Das Pub­likum betra­chtet das Spek­takel und legt sich als tran­szen­den­tale Bedeu­tungsebene um den Glaskä­fig: durch den Blick von Außen anal­o­gisiert sich der Robot­er im Inneren zum Abbild des Men­schen selb­st. Es ist die men­schliche Lebenser­fahrung, welche die Szene im Käfig anthropomorphisiert.

“Can’t Help Myself”

Can’t Help Myself ist eine sorgfältig durch­dachte Analo­gie. Kein Ele­ment bleibt dem Zufall über­lassen. Indem jede*r Einzelne sich dazu entschließt aktiv an der Beobach­tung des Robot­ers teilzunehmen, betritt sie damit den Raum des Kunst­werks selb­st und wird zu einem zen­tralen Ele­ment des­sel­ben. Can’t Help Myself ist auf den Blick von außen angewiesen, um zu wirken. Auch der Titel der Instal­la­tion rund um ihren “aus­blu­ten­den” Indus­trier­o­bot­er haben Yuan und Yu nicht dem Zufall über­lassen. Can’t Help Myself kann entwed­er bedeuten: “Ich kann mir nicht helfen”—oder “Ich kann nicht anders.” Für die bei­den Kün­stler repräsen­tiert die Instal­la­tion “die Fol­gen des Autori­taris­mus, der von bes­timmten poli­tis­chen Agen­den geleit­et wird, die darauf abzie­len, mehr Gren­zen zwis­chen Orten und Kul­turen zu ziehen, und den zunehmenden Ein­satz von Tech­nolo­gien zur Überwachung unser­er Umwelt.” Für mich und viele User, die im ver­gan­genen Jahr online auf die Instal­la­tion stießen, entste­ht in ihr eine Analo­gie zum Leben im Kap­i­tal­is­mus, welch­es durch drei Ele­mente in Can’t Help Myself verdeut­licht wird. 

Erstens, die tiefrote Flüs­sigkeit die dem Robot­er entläuft, evoziert in der Betra­ch­terin das Bild von Blut. Auch die Überzeu­gung des Robot­ers, dass er die Flüs­sigkeit unbe­d­ingt rasch aufwis­chen muss, erin­nert an die Funk­tion von Blut als Quelle des Lebens. Zweit­ens, seine Sisyphosauf­gabe—eine zyk­lis­che Arbeit, in der Anfang und Ende ineinanderfließen—liest sich als Meta­pher des Über­lebens im Kap­i­tal­is­mus. So wie sich der Robot­er pausen­los dreht und sich selb­st erschöpft, nur um sich am Leben erhal­ten zu kön­nen, so gehen wir jeden Tag arbeit­en, verkaufen unsere Leben­szeit und unsere Kör­p­er an diejeni­gen, die Reich­tum anhäufen, und erschöpfen uns weit über unsere Gren­zen hin­aus. Drit­tens, die zweiund­dreißig Tanzbe­we­gun­gen, die der Robot­er zusät­zlich dem Pub­likum vor­führt, spiegeln unsere Überzeu­gung, dass die Erschöp­fung unser­er Zeit und unser­er Kör­p­er nicht genügt, son­dern wir außer­dem eine nor­ma­tive Fas­sade aufrecht erhal­ten müssen. Auch außer­halb der Lohnar­beit gel­ten wir nur als wertvolle Mit­glieder der Gesellschaft, wenn wir Ziele ver­fol­gen, uns vergeben, uns lebenslänglich pro­duk­tiv halten. 

Wie der KUKA Robot­er im Herzen der Instal­la­tion ergeben sich im Kap­i­tal­is­mus viele Men­schen ihrem Schick­sal. Wie Robot­er, pro­gram­miert und reg­uliert vom kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschafts­dok­trin, fol­gen sie einem Kreis­lauf aus Kom­mod­i­fizierung und Mate­ri­al­is­mus. Albert Camus, welch­er in seinem Werk Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde (1942) im Rah­men der Exis­ten­tial­philoso­phie Über­legun­gen zum Sinn des Lebens anstellte, akzen­tu­iert eine gewisse mech­a­nis­che Unschuld im Unwis­sen über die Absur­dität des Lebens. Der Men­sch, sorgfältig einge­bet­tet in den zyk­lis­chen Mech­a­nis­mus des Kap­i­tal­is­mus, scheint sog­ar fast zufrieden zu sein in dieser Rota­tion. Erst mit dem Moment des Erwachens, der däm­mern­den Erken­nt­nis der eige­nen Sit­u­a­tion, wird das wahre Elend aufgedeckt. Von nun an wird er mit ein­er Sorge kon­fron­tiert, die zuvor in seliger Unwis­senheit ver­bor­gen war: 

“Manch­mal stürzen die Kulis­sen ein. Eines Tages […] erhebt sich das “Warum”, und mit diesem Über­druss, in den sich Erstaunen mis­cht, fängt alles an. […] Der Über­druss ste­ht am Ende der Hand­lun­gen eines mech­a­nis­chen Lebens, gle­ichzeit­ig leit­et er aber auch eine Bewusst­sein­sre­gung ein”, schreibt Camus. 

In sein­er Mechan­ität fol­gt der Men­sch also einem gesellschaftlichen Muster, das er kaum bis gar nicht hin­ter­fragt. Er ist der Robot­er im Glaskä­fig, der sein­er wider­sprüch­lichen Leben­sauf­gabe nachge­ht. Erst als er durch einen plöt­zlichen Bruch in seinen mech­a­nis­chen Wieder­hol­un­gen von sein­er Posi­tion inner­halb des Käfigs zum Zuschauer außer­halb des Käfigs wird, er sich aus ein­er inneren Blind­heit zu ein­er äußeren Erken­nt­nis erhebt, sehnt er sich plöt­zlich nach einem Daseinssinn. Zu diesem Zeit­punkt kön­nte er dreißig Jahre alt sein, oder fün­fzig, oder achtzig. Ein­er­seits kön­nte von Glück gesprochen wer­den, wenn die Einzelne diesem Über­druss nicht begeg­net. Ander­er­seits liegt nur in der Auseinan­der­set­zung mit diesem Über­druss die Möglichkeit die wahre Frei­heit der Selb­st­bes­tim­mung zu erfahren. Doch wird dieses Unter­fan­gen erschw­ert, sog­ar gefährlich, da wed­er die Welt noch das Uni­ver­sum der einzel­nen Antworten an die Hand geben können. 

“Der Men­sch ste­ht dem Irra­tionalen gegenüber. Er spürt in sich seine Sehn­sucht nach Glück und nach einem vernün­fti­gen Grund. Das Absurde entste­ht aus dieser Kon­fronta­tion zwis­chen dem men­schlichen Bedürf­nis und der unvernün­fti­gen Stille der Welt”, schreibt Camus. “Es ist diese Schei­dung zwis­chen dem Geist, der begehrt, und der Welt, die ent­täuscht, meine Sehn­sucht nach Ein­heit, dieses zer­split­terte Uni­ver­sum und der Wider­spruch, der sie zusammenhält.” 

Camus schlägt vor, in diesem Wider­spruch zu leben und der eige­nen Welt, dem eige­nen Leben fol­glich autark eine Bedeu­tung zuzuweisen, die nicht von einem höheren Uni­ver­sum stammt. 

Can’t Help Myself baut sich in drei bedeu­tungsvollen Schicht­en seman­tis­ch­er Sym­bo­l­ik auf. Die erste Schicht ist direkt wahrnehm­bar: Der Robot­er, eingeschlossen im Glaskas­ten in dem er monot­on sein­er Auf­gabe nachge­ht und tanzt, bis er zum Still­stand kommt. Die zweite Schicht ist der Blick von außen, die einzel­nen Zuschauer*innen, die sich förm­lich um den Glaskä­fig leg­en und in dieser Sit­u­a­tion die Schwere ihrer eige­nen Exis­tenz erken­nen. Die dritte Schicht ist der Blick der Welt auf Instal­la­tion und Pub­likum in Form der zahlre­ichen User durch Com­put­er- und Handy­bild­schirme; isoliert in dun­klen Woh­nun­gen. Die Ein­samkeit im Käfig, kon­trastiert durch die beobach­t­en­den Gemein­schaft außer­halb des Käfigs, spiegelt sich in den vere­inzel­ten Social Media Userin­nen wider. Die User richt­en ihren Blick auf die als ein­sam les­bare Mechan­ität eines Robot­ers, tra­gen die Stoßwirkung sein­er affek­tiv­en Ladung jedoch mit sich selb­st aus. Sein Video wird in einen leeren virtuellen Raum “geteilt”. Ein Teilen, dass sich auf­grund des Fehlens ein­er bes­timmten Empfän­gerin in der Weite des virtuellen Raumes ver­liert. Die Empfän­gerin ver­schwindet in der anony­men Vielzahl der User, die dadurch die nachemp­fun­dene Vere­in­samung des Robot­ers im Glaskä­fig nicht über­winden kön­nen, son­dern stattdessen diese Vere­in­samung vor ihren Bild­schir­men wieder­holen. Die Par­tizipa­tion in sozialen Medi­en und der Zugang zu so vie­len Men­schen wider­spricht sich in der zunehmenden Ein­samkeit, die sich daraus entwick­elt. Ruft Camus in die Welt und die Welt schweigt, so teilen wir uns mit einem Raum, in dem wir uns mit anderen verbinden möcht­en und zurück tönt eine erdrück­ende Stille. 

Jean-Pierre Dal­béra / Flickr

Am Ende liegt eine schmerzhafte Erkenntnis

Nach drei Jahren, in welchen sich der KUKA Robot­er drehte und drehte, blutete und tanzte, wurde er schließlich langsamer. 2019 kam seine Arbeit zu einem Halt, als der robo­tis­che Arm seine Funk­tion­stüchtigkeit ver­lor. Drei Jahre lang befand sich der Robot­er in einem zer­mür­ben­den Zyk­lus zwis­chen der pro­gram­mierten Erhal­tung sein­er Exis­tenz und seines langsamen Aus­blutens. Es war dieser Moment, der Can’t Help Myself einen Wen­depunkt ver­lieh, denn während seines  ver­meintlichen Kampfes um Beständigkeit und sein­er ermü­den­den Ver­suche, seine Auf­gabe zu erfüllen, bemerk­te er eine Selt­samkeit nicht: Er brauchte die Flüs­sigkeit nie, die aus seinem Behäl­ter aus­trat. Er wurde die ganze Zeit hin­durch mit Elek­triz­ität betrieben. Der ein­fache KUKA-Robot­er, der für repet­i­tive Indus­triear­beit­en hergestellt wurde, kon­nte das nicht wis­sen. Er ist ein Robot­er, er denkt und fühlt nicht. Die Emo­tio­nen, die die Zuschauer*innen beim Kampf des Robot­ers erleben, sind ihre eige­nen. Warum also erken­nen wir nicht, dass wir in einem uner­bit­tlichen, ermü­den­den Kreis­lauf gefan­gen sind, wenn wir doch über das notwendi­ge Bewusst­sein dazu ver­fü­gen? Und welche Kon­se­quen­zen kön­nten sich aus dieser Erken­nt­nis ergeben? 

“Der absurde Men­sch erblickt ein bren­nen­des und küh­les, trans­par­entes und begren­ztes Uni­ver­sum, in dem nichts möglich, aber alles gegeben ist, und über das hin­weg alles Zusam­men­bruch und Nichtigkeit ist. Er kann sich dann entschei­den, ein solch­es Uni­ver­sum zu akzep­tieren und daraus seine Kraft, seine Weigerung zu hof­fen und den unnachgiebi­gen Beweis eines Lebens ohne Trost zu schöpfen”, schreibt Camus. 

Also, schlussfol­gert er, “stelle ich fest, dass alles in Ord­nung ist.” In Can’t Help Myself wird der Moment dieses Erblick­ens deut­lich, wenn sich das eigene Welt­sys­tem als fremd und mech­a­nisch offen­bart und auf die Sin­n­frage keine Antwort ken­nt. Was ste­ht am Ende der Blut­jahre? Wie begreift sich eine Exis­tenz die sich ihrer selb­st bewusst gewor­den ist, beschw­ert von blenden­den Lichte­in­fällen, die offen­le­gen, wie die Dinge wirk­lich beschaf­fen sind? “Es geht darum, zu leben”, verkün­det Camus, als läge in dieser Fest­stel­lung bere­its das wie, die Aufhe­bung ein­er dif­fusen Rota­tion. Für ihn geht es im Wesentlichen darum, alles aufzubrauchen, was das physis­che Uni­ver­sum hergibt und zur Ver­fü­gung stellt, um seinen Lei­den­schaften nachzuge­hen: “Was zählt ist nicht das beste Leben, son­dern das meiste Leben.” Der Men­sch ist also der­jenige, der das Leben sin­nvoll gestal­tet, der die Dimen­sio­nen sein­er Tiefe, sein­er Pracht und seines Inhalts gestal­tet. Das erwartet Camus nicht von einem höheren Uni­ver­sum, ja nicht ein­mal von einem Gott. Er fordert auf, nicht dem Fehler zu fol­gen, der andere dazu bringt, ihren Ver­stand aufzugeben und ihre Beru­fung in die Hände ein­er Struk­tur zu leg­en, die im Grunde meta­ph­ysisch beein­trächtigt ist. “Wenn der Men­sch erken­nen würde, dass das Uni­ver­sum wie er lieben und lei­den kann, wäre er ver­söh­nt”, fügt Camus hinzu und spielt damit auf ein Gle­ichgewicht zwis­chen den ver­schiede­nen Ele­menten ein­er anthro­pozen­trischen Welt an, die nicht hier­ar­chisch geord­net, son­dern einan­der eben­bür­tig sind. Das bedeutet nicht, dass das Leben des Men­schen auf irgen­det­was hin­aus­laufen muss, dass es ein Ziel geben muss, auf das er zus­teuert, son­dern dass er sein Leben mit den Reichtümern füllen sollte, die sich ihm offen­baren, sobald er seine Lei­den­schaften in das aufn­immt, was er als seine Welt beze­ich­net. Es ist schw­er, außer­halb eines Sys­tems zu existieren, das alle anderen ein­schließt. Schnell wirkt dieses Sys­tem wie ein Fremd­dik­tat. Aber Camus’ Lei­den­schaft weist darauf hin, dass wir in der Kon­fronta­tion mit dieser Welt immer über Hand­lungs­fähigkeit ver­fü­gen. Wir kön­nen über die willkür­liche Indif­ferenz unser­er Exis­tenz lamen­tieren, dabei liegt die Wahrheit doch eigentlich zu jed­er Zeit schon in uns.

ACME / Flickr

Die Nega­tion ein­er Welt

Was bedeutet dieser drän­gende Appell nun für unser Leben im Kap­i­tal­is­mus? Je mehr man darüber nach­denkt, desto weniger ist die lei­den­schaftliche Revolte, die Camus in Le Mythe de Sisyphe propagiert und sein Aufruf zu ein­er Anhäu­fung von Lebenser­fahrun­gen, zum “Auf­brauchen” der Welt, im Kap­i­tal­is­mus möglich. Sich­er, je nach Leben­sum­stän­den und Per­sön­lichkeitsmerk­malen wird die eine ihr Leben mit mehr Erfahrun­gen füllen kön­nen als die andere, auch wenn bei­de einen Großteil ihres Lebens in Lohnar­beit ver­brin­gen. Um die Zeit zu füllen, die außer­halb des Ein­fluss­bere­ichs der Lohnar­beit noch verbleibt, bedarf es Aben­teuer­lust. Diesen Kraftakt bewältigt nur ein Ver­stand, der in der Lage ist, sich ein erfülltes Leben vorzustellen, das jedoch von 1760 Stun­den Selb­stkom­mod­i­fizierung pro Jahr durch­drun­gen und durch­mis­cht ist. Diese Selb­stkom­mod­i­fizierung ist zum größten Teil nicht frei­willig, was mein­er Mei­n­ung nach den eigentlichen Kon­flikt im Kap­i­tal­is­mus for­muliert. Alter­na­tive Lebenswege sind möglich, erfordern aber wiederum Ressourcen und Verzichte, die zuerst aufzubrin­gen sind und Verzichte, die man bere­it ist, einzuge­hen. Der Spätkap­i­tal­is­mus geht nicht ger­ade mit ein­er Chan­cen­gle­ich­heit ein­her, die diese Mit­tel ver­füg­bar machen würde. Aber wo es nicht passt, muss es logis­cher­weise anders gemacht wer­den. Was nützt es, Camus’ Idee der lei­den­schaftlichen Revolte, der Lebens­be­jahung, in das kap­i­tal­is­tis­che Sys­tem zwin­gen zu wollen, wenn sie nicht recht zu passen scheint. Es bleibt also zu über­legen, in welche Rich­tung sich das Welt­sys­tem entwick­eln müsste, um diese Revolte zu ermöglichen. In Anbe­tra­cht der Gewalt, die ins­beson­dere in das west­liche Welt­sys­tem der let­zten zwei­hun­dert Jahre einge­baut ist, ist eine radikale Hal­tung die Idee des  Zurück­set­zens von allem, was ist. Auch wenn es wie eine radikale, unmögliche men­schliche Auf­gabe erscheint: Die Welt ist nicht in Stein gemeißelt. Die Dinge müssen nicht ewig so weit­erge­hen, wie sie es jet­zt tun. Es ist keineswegs undenkbar, dass Camus’ Revolte auch in einem lei­den­schaftlichen Glauben an eine Nega­tion der Jet­zt-Welt wurzeln kön­nte und zugle­ich dazu beiträgt alter­na­tive Lebensen­twürfe zu gestalten.

Lei­den­schaft ist absurde Freiheit

Das Absurde ist zugle­ich men­schen­be­zo­gen und los­gelöst von men­schengemacht­en Sys­te­men. Es bed­ingt sich durch die Sin­n­frage des Men­schens, sein Begehren nach einem Grund—doch es bezieht sich nicht notwendi­ger­weise auf den Kap­i­tal­is­mus oder andere Sys­teme. Sie kön­nen das Gefühl der Absur­dität des eige­nen Lebens lediglich ver­stärken. Was den Men­schen im gle­ichen Maße an die Welt bindet und sie als fremd, ger­adezu sinn­los erscheinen lässt, ist das Absurde. Das Absurde kann sich also allein im Para­dox­en bewe­gen. Innen und Außen, Fremd und heimisch, Ich und Nicht-Ich bilden polar­isierende Span­nungsver­hält­nisse, in denen das Leben eben­so prekär wie in sein­er ganzen Fülle vib­ri­erend, erfahrbar wird. Die Frage nach dem Warum, nach dem eige­nen Platz im Kausalu­ni­ver­sum find­et seinen Ursprung in der Bewusst­seins­fähigkeit des Men­schen. “Das Leben unter diesem erdrück­enden Him­mel zwingt einen dazu, wegzuge­hen oder zu bleiben”, schreibt Camus. Doch wer sich für das Wegge­hen und nicht für das Bleiben entschei­det, wird in diesem Ver­such im Eskapis­mus scheit­ern. Camus iden­ti­fiziert fol­gende eskapis­tis­che Praxen:

Die erste logis­che Kon­se­quenz, die aus ein­er Begeg­nung mit dem Absur­den her­vorge­ht,  ist der Selbstmord—eine unver­mei­d­bare Faus­tregel für den absur­den Men­schen. Ihn unter­sucht Camus aus­giebig zu Beginn of Le Mythe. Dem Rufen nach Bedeu­tung ent­geg­net Stille. Der Erken­nt­nis des Absur­den entspringt mitunter Depres­sion und Rat­losigkeit. Ein Sprung in den Suizid set­zt dem Lei­den ein Ende und been­det damit auch das Absurde. Doch Camus drängt darauf, dass ein guter Grund zum Ster­ben auch ein guter Grund zu leben sei. Es sei wahr, dass das Absurde an den Men­sch geket­tet sei und ohne ihn nicht beste­hen würde, doch das Nehmen des eige­nen Lebens begreift er als heftige Zurück­weisung der eige­nen Frei­heit, als Kapit­u­la­tion. Für Camus wurzelt die men­schliche Exis­tenz in diesem lei­den­schaftlichen Ringen. 

Eine weit­ere Flucht aus dem Absur­den ist für Camus der blinde “Sprung” in die Reli­gion, welchen er sog­ar als “philosophis­chen Suizid” und als “Abtre­tung des eige­nen Ver­standes” beze­ich­net: “Die Größe [Gottes] ist seine Wider­sprüch­lichkeit. Sein Beweis ist seine Unmen­schlichkeit. Man muss in ihn sprin­gen und sich durch diesen Sprung von ratio­nalen Illu­sio­nen befreien.” Der Men­sch überträgt die Eige­narten des Absur­den auf seinen Gott, welch­er fol­glich wider­sprüch­lich und ungerecht sein muss, und ver­langt von ihm eine Anweisung, ein Dik­tat nach welchem er zu leben hat. Ein Dik­tat welch­es ihm erk­lärt, wieso und wofür er lebt. Dass dieser Sprung zu Gott let­ztlich eine bloße Cha­rade ist, wird deut­lich: Das Absurde ist die Meta­physik des Men­schen, und indem er es auf einen Gottes­be­griff überträgt, tritt er somit auch seine Ver­ant­wor­tung ab. Dass dieser Sprung, diese Flucht, ver­lock­end ist, zeigt sich in der Men­schengeschichte sehr deut­lich. Doch sie überdeckt das Prob­lem nur, statt es zu lösen. 

Aus dem Absur­den zieht Camus drei Schlüsse, drei Kon­se­quen­zen: “meine Revolte, meine Frei­heit und meine Lei­den­schaft.” Seine Revolte wurzelt in ein­er Auf­bäu­mung gegen das Absurde, seine Frei­heit in sein­er Akzep­tanz und seine Lei­den­schaft in den Erfahrun­gen, die das Uni­ver­sum eröffnet. Im Angesicht der Stille des Uni­ver­sums schreibt Camus schließlich in seinen Notizbüch­ern:

“Man muss Bedeu­tung find­en. Melan­cholie von Trau­rigkeit unter­schei­den. Mache einen Spazier­gang. Es muss kein roman­tis­ch­er Spazier­gang im Park sein, der Früh­ling in sein­er spek­takulärsten Phase, Blu­men und Gerüche und her­aus­ra­gende poet­is­che Bilder, die dich san­ft in eine andere Welt ver­set­zen. Es muss kein Spazier­gang sein, bei dem du mehrere Lebenser­fahrun­gen machen und Erken­nt­nisse erre­ichen musst, auf die kein anderes Gehirn je gestoßen ist. Habe keine Angst davor, Zeit mit dir selb­st zu ver­brin­gen. Finde eine Bedeu­tung darin oder nicht, aber ‘stiehl’ dir etwas Zeit und gib sie dir aus freien Stück­en und dir alleine. Entschei­de dich für Pri­vat­sphäre und Allein­sein. Das macht dich nicht unsozial und führt nicht dazu, dass du den Rest der Welt ablehnst. Aber du musst atmen. Und du musst sein.” 

Wenn wir den Robot­er in seinem gläser­nen Gehäuse um der affek­tiv­en Wirkung der Instal­la­tion willen als den Men­schen akzep­tieren, der in ein mech­a­nis­ches Leben einges­per­rt ist, dann stellt das ihn umgebende Pub­likum den Moment der Erleuch­tung dar. Und der Schock, die eigene sinnlose Exis­tenz zu erken­nen, sitzt unweiger­lich tief. Camus greift die men­schliche Erfahrung in genau diesem Moment auf. Er will wis­sen: Ist das Leben noch lebenswert? Und er kommt zu dem Schluss: “Ein guter Grund zu ster­ben ist auch ein guter Grund zu leben.” Aber wie kann man unter ein­er so unerträglichen Last weit­er­leben? Camus argu­men­tiert, dass seine Lei­den­schaft und sein Wider­stand gegen das betäubende Nichts das Leben des Men­schen aus­füllen, der so wiederum seinem eige­nen Leben einen Sinn ver­lei­ht. Wo Sisyphos seinen Felsen hin­auf wuchtet, nur um ihn wieder hin­un­ter­rollen zu sehen, fol­gert Camus: “Man muss sich Sisyphos glück­lich vorstellen.” 

Camus, Albert. The Myth of Sisy­phus. 17th ed., Pen­guin, 2005.

Lek­to­ri­ert von Clemens Hüb­n­er mit Lara Hele­na
Cov­er Alek­san­dr Zykov/Flickr

 

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