PHILOSOPHIE, FLINTA, SOZIOLOGIE
Geschlechtsspezifische Ungleichheit in postindustriellen Wohlfahrtsstaaten
by MERCY FERRARS

01/09/2022
UNGLEICHHEIT BETRIFFT marginalisierte Gruppen in den meisten demokratischen Wohlfahrtsstaaten. Sie ist nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern betrifft auch jene, die nicht weiß, able-bodied, oder heterosexuell sind. Die prestigeträchtige gesellschaftliche Stellung weißer Männer steht für einen langen Kampf zwischen dem Normativen und dem Abweichenden, der sich mindestens bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen lässt. In einer Zeit, die von einem rückwärtsgewandten Glauben an Dämonologie und Mythologisierung geprägt war, wurden Frauen und queere Menschen unter dem Vorwurf der Hexerei verfolgt. Dieser Vorwurf verdrängte ihre frühere Emanzipation. Die Hexenverfolgung schaffte Naturheiler*innen und Hebammen ab, kriminalisierte sexuelle Befreiung, zerstörte die weibliche Gemeinschaft und schuf eine frühe Form des Patriarchats. Der dämonologische Glaube rechtfertigte einen Krieg gegen Frauen und queere Menschen, der in erster Linie vom Klerus im Einklang mit der herrschenden Klasse ideologisiert wurde. Unter dem Deckmantel des christlichen Glaubens war die Hexenverfolgung in hohem Maße politisch motiviert.
Als sich die Era der europäischen Hexenverfolgungen dem Ende zuneigt, scheint die “wilde Frau” besiegt und verschmilzt mit dem viktorianischen Ideal des “Hausengels.” Im neu entstandenen Modell der Kleinfamilie war die Frau auf den häuslichen Bereich beschränkt und für die gesellschaftliche Reproduktionsarbeit zuständig, für die sie nicht entlohnt und nicht entschädigt wurde. Damit erfuhr sie einmal mehr eine Marginalisierung, die nun mit wirtschaftlichen Mitteln, nämlich der Stabilisierung des Frühkapitalismus, begründet wurde. In dieser Zeit wurden die Geschlechternormen, die wir heute aufzubrechen suchen, entwickelt und kulturell reproduziert. Nun fällt Carearbeit, Kindessozialisierung und Haushaltsarbeit der Mutterfigur zu und die Bereitstellung von Geld durch Lohnarbeit der Vaterfigur. In Europa wurde dies durch die frühkapitalistischen Entwicklungen und die industrialisierte Massenproduktion um die Jahrhundertwende weiter beschleunigt.
Heute werden Frauen mit Ungleichheit konfrontiert, die sich als Emanzipation tarnt. Sie nehmen am Arbeitsmarkt teil und verfügen über demokratische Bürgerrechte. Bürgerrechte richten sich jedoch weiterhin nach Männern und männlichen Bedürfnissen, und erkennen weibliche Körper noch immer nicht als autark an. Die COVID-19-Pandemie machte Ungleichheiten sichtbar. Sie rückte weibliche Arbeitnehmerinnen in den Mittelpunkt. Jene machten bereits 2019 zwischen 70 und 90 Prozent der systemrelevanten Arbeitnehmer*innen in Deutschland aus, und mehr als 66 Prozent der erwerbstätigen Mütter arbeiteten in Teilzeit, während dies nur bei 6 Prozent der Väter der Fall war, wie Studien der Bundesagentur für Arbeit und des Statistischen Bundesamtes zeigen. Die Pandemie drängt daher mehr denn je, Wohlfahrtsmodelle zu überdenken und so anzupassen, dass die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sowie die Ungleichheit anderer sozialer Gruppen ausgeglichen wird.
Crisis of Care
Nancy Fraser, feministische Philosophin und Herausgeberin des Fachmagazins Constellations, bietet eine politische und ökonomische Darstellung der Auswirkungen der kapitalistischen Gesellschaft auf die Ungleichheit der Geschlechter in ihrem 2017 erschienenen Essay “Crisis of Care? On the Social-Reproductive Contradictions of Contemporary Capitalism.” Fraser sieht gesellschaftlich reproduktive Arbeit im Kern jeder funktionierenden Gesellschaft, während sie die Krisenanfälligkeit kapitalistischer Systeme dadurch bedingt sieht, dass sie nicht genügend Ressourcen für diese Arbeit bereitstellen. Daher definiert sie eine “Krise der Pflege” als direkte Auswirkung des kontradiktiven “finanzialisierten neoliberalen Kapitalismus unserer Zeit.”1 Reproduktionsarbeit und Carearbeit formen “die menschlichen Subjekte des Kapitalismus.”2 Doch obwohl diese Arbeit für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems an sich unerlässlich ist, wird sie marginalisiert, abgewertet und vor allem nicht bezahlt. Während die Lohnarbeit als Arbeitsverhältnis gilt und in der Regel innerhalb Parameter wie Arbeitszeiten, Pausen, festen Gehältern und Urlaubsansprüchen verrichtet wird, geht die sozial-reproduktive Arbeit in das Privatleben derjenigen über, die sie verrichten, bis zu dem Punkt, an dem sie verschmelzen. Carearbeit gilt als eine Tugend der Liebe. Mit dem im 19. Jahrhundert aufkommenden viktorianischen Bild des Weiblichen, das von Werten wie Häuslichkeit, Heimeligkeit und Fürsorge durchdrungen war, und der gleichzeitigen Abwertung solcher Eigenschaften in der Gesellschaft wurden Frauen schon früh von den Märkten ausgegrenzt. Während sie bereits im 14. Jahrhundert als Ärztinnen, Metzgerinnen oder Lehrerinnen tätig waren, treten sie nun in den Hintergrund und überlassen die Bühne dem männlichen Lohnarbeiter. Diese Marginalisierung vom Markt markierte folglich einen entscheidenden Schritt in der Unterordnung der Frauen, nicht nur in der wirtschaftlichen, sondern auch in der politischen und sozialen Sphäre.
Hierin liegt der Widerspruch der jüngsten Phase des Kapitalismus, einer Krise, die an den Grenzen der Bereiche von Produktion und Reproduktion angesiedelt ist. Eine Krise die oft stumm und unsichtbar ist wird spürbar, wenn sich das System von den sozialen Kräften löst, von denen es abhängt: “Indem sie ihre eigenen Bedingungen der Möglichkeit zerstört, frisst die Akkumulationsdynamik des Kapitals effektiv ihren eigenen Schwanz,” schreibt Fraser.3 Während dieser Widerspruch für den Kapitalismus als solchen von zentraler Bedeutung ist, ist jedes Stadium des Kapitalismus an seine eigenen “Grenzkämpfe” gebunden und muss daher genauer untersucht werden.
Die späte vorindustrielle Gesellschaft: Liberaler Wettbewerbskapitalismus
In der frühesten Phase des liberalen Wettbewerbskapitalismus des 19. Jahrhunderts identifiziert Fraser ein baldiges Beispiel für die dem Kapitalismus innewohnende Tendenz zur Instabilität am Beispiel armer Arbeiterinnen, die in Fabriken für billige Arbeit unter harten Arbeitsbedingungen herangezogen werden. Eine derart ausgebeutete Arbeiterin wird sich höchstwahrscheinlichdie unlängst von einem misogynen Genozid traumatisiert wurde nach Ende ihrer Tätigkeit nicht um Carearbeit kümmern, und ebenso wenig wird die Arbeiterin, die unlängst von einem misogynen Genozid traumatisiert wurde, in der Lage sein, viktorianische Ideale der Häuslichkeit zu erfüllen. Fraser zeigt eine sich abzeichnende zweigleisige Krise: einerseits der “sozialen Reproduktion in den armen und arbeitenden Klassen,” andererseits die “ moralische Panik in den Mittelschichten, die sich über das, was sie als ‘Zerstörung der Familie’ und die ‘Entgeschlechtlichung’ der proletarischen Frauen verstanden, empörten.”4 Als Reaktion auf eine solche Krise, die viele—darunter Marx und Engels—für das Ende des Kapitalismus hielten, wurde “der Kampf um die Integrität der sozialen Reproduktion mit der Verteidigung der männlichen Vorherrschaft verwoben,”5 indem die (Kern-)Familie neu definiert und die Unterschiedlichkeit der Geschlechter hervorgehoben wurde. Mit dieser Umstrukturierung der frühindustriellen Gesellschaft hoffte man, den drohenden Zusammenbruch des Systems abwenden zu können, indem man Frauen und Männer in ihren jeweiligen Domänen festhielt und die soziale Stabilität sicherstellte. Interessant an Frasers Analyse dieser frühesten Form des Kapitalismus ist die Erwähnung der liberalen feministischen Bewegungen, die sich um eine Angleichung der Situation der Frauen an die der Männer bemühten. Während die Wiedereingliederung der Frauen in den Arbeitsmarkt zur obersten Priorität wurde, wurde die Gleichberechtigung in der Reproduktion jedoch vernachlässigt.
Die Industriegesellschaft: Der staatlich gelenkte Kapitalismus
Während der frühe liberale Kapitalismus unter einer Instabilitätskrise im Bereich der Reproduktion litt und das viktorianische Familienmodell des Lohnarbeiters und des Engels im Haushalt hervorbrachte, basierte der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene staatlich verwaltete Kapitalismus “im Kern auf industrieller Großproduktion und häuslichem Konsum”3 und versuchte, die Stabilität des Systems durch einen noch stärkeren Fokus auf die Unterstützung der sozialen Reproduktion durch staatliche Sozialleistungen zu retten. Dies war nicht ausschließlich eine schlechte Entwicklung. Zum einen erkannte die kapitalistische Elite die Bedeutung der gesellschaftlich reproduktiven Arbeit als Mittel zur Aufrechterhaltung der Kapitalakkumulation über einen längeren Zeitraum hinweg und verlagerte ihre Bestrebungen auf die Stabilisierung der heraufziehenden Krise. Diese neue Zielsetzung war jedoch nur dann realisierbar, wenn das Potenzial für endloses Wachstum gegeben war, was wiederum durch die Sicherung einer ausreichenden Konsumnachfrage gewährleistet werden musste. Dem Haushalt wurde in diesem Stabilisierungsprozess also eine doppelte Rolle zugewiesen: Er beherbergte nicht nur die Kapazitäten für die soziale Reproduktion, sondern wurde auch zum Hauptkonsumenten, der Massenwaren anhäufte, welche das Familienleben bereichern sollten.6 Vor allem aber verschoben sich die Werte der Arbeiterklasse hin zu einer größeren Bedeutung des Familienlebens über wirtschaftliche Effizienz und Massenproduktion. Da die Familie zur Grundlage der sozialen Organisation und dadurch zu einer entscheidenden sozialen Institution wurde, forderte die Arbeiterklasse volle Staatsbürgerschaft und politische Teilhabe. “Im Gegensatz zu den Schutzgesetzen des liberalen Regimes war die staatskapitalistische Regelung das Ergebnis eines Klassenkompromisses und stellte einen demokratischen Fortschritt dar”, bemerkt Fraser6, da der Staat eine wesentliche Rolle bei der Bereitstellung von Sozialleistungen übernahm. In erster Linie stellt die Sozialfürsorge in ihren frühen Formen jedoch ein ökopolitisches Instrument dar, um die Produktion langfristig zu maximieren und die Krisentendenz zu stabilisieren. Die Idee eines “Familienlohns” wurde stark gefördert, und “durch die Institutionalisierung androzentrischer Auffassungen von Familie und Arbeit wurden Heteronormativität und Geschlechterhierarchie naturalisiert und weitgehend der politischen Auseinandersetzung entzogen”.7 Dieser Schritt war ein zentraler Auslöser für die Entstehung der modernen Geschlechterungleichheit, und die Durchsetzungskraft des Modells beweist ein Interesse an sozialer Wohlfahrt als Sicherung von Macht und Kapital über sozialer Gleichheit.
Die postindustrielle Gesellschaft: Der finanzialisierte Kapitalismus
Das jüngste kapitalistische Regime entstand in den 1980er Jahren als Reaktion auf die postindustrielle Gesellschaft der demokratischen westlichen Staaten. In einer Gesellschaft, die auf dem Handel mit Dienstleistungen statt auf der Massenproduktion von Gütern basiert, wird die Produktion in Länder mit niedrigen Löhnen verlagert, während Kapitalist*innen fordern, dass Frauen auf den Lohnarbeitsmarkt zurückkehren.3 Folglich entzieht sich der Staat mehr und mehr aus Sozialfürsorge, was zu einer Überbeanspruchung der Carearbeit und einer Konfiguration hin zu einer Zentralität von Schulden führt.
“Das Kapital kannibalisiert zunehmend die Arbeit, diszipliniert die Staaten, transferiert den Reichtum von der Peripherie zum Kern und entzieht den Haushalten, Familien, Gemeinschaften und der Natur den Wert.” (Fraser 2017: 32)
Eine drastische Veränderung der Familienformel ersetzt langsam das Ideal der Kernfamilie: Eine Zunahme von Scheidungen, Alleinerziehenden und queeren Familien machen es unmöglich, dass der Familienlohn den Test der Zeit übersteht. Das moderne Ideal ist somit die Zwei-Verdiener-Familie geworden. Doch sowohl für Zwei-Verdiener-Familien als auch für alleinerziehende Mütter, die auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt sind, bedeutet dies eine Abnahme der Kapazität für Carearbeit, die nach wie vor die Säule des Kapitalismus schlechthin ist. Die bekannte Instabilitätstendenz des kapitalistischen Systems wird jedoch entweder durch “globale Betreuungsketten”8 ausgeglichen, in denen reichere Familien vor allem ärmere, nichtweiße Frauen beschäftigen, oder durch eine Zunahme der Armut unter alleinerziehenden Müttern, die sich die Kinderbetreuung nicht leisten können und daher auf Teilzeitjobs beschränkt sind, die kaum das Existenzminimum decken. Wir sehen im modernen kapitalistischen Regime eine klaffende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern als Überbleibsel früherer kapitalistischer Regime und eine gleichzeitige Zunahme und Ausrichtung auf Emanzipation. Indem die Frauen in den Markt zurückgeholt werden, erhalten sie Zugang zu finanzieller Unabhängigkeit und, je nach Art ihres Berufs, schließlich eine Stimme in der Entscheidungsfindung und im öffentlichen Raum. Frauen werden in ihren politischen und Bügerrechten den Männern (wenn auch unzureichend) gleichgestellt. Dennoch liegt die Hauptlast der Carearbeit auf den Schultern der Frauen. Infolgedessen hat sich die Situation der Frauen unter diesem neuen Regime asymmetrisch verändert, mit einer Zunahme der Marktbeteiligung und einer Abnahme der staatlich investierten Unterstützung für die Carearbeit sind sie nun einer doppelten Arbeitsbelastung ausgesetzt, die mit zunehmender Armut einhergeht. Das Ergebnis ist “ein ‘progressiver’ Neoliberalismus, der ‘Vielfalt,’ ‘Leistungsgesellschaft’ und ‘Emanzipation’ feiert, während er gleichzeitig soziale Schutzmechanismen abbaut und die soziale Reproduktion re-externalisiert.”9
Vergeschlechtlichte Wohlfahrt
Die amerikanische Soziologin Ann Orloff ergänzt die Rekonstruktion der gegenwärtig vorherrschenden Geschlechterungleichheit durch eine vergleichende Analyse. In Gender in the Welfare State (1996) fasst sie die polarisierenden Positionen zur Wechselwirkung zwischen Wohlfahrtsstaat und Geschlechterverhältnissen zusammen. Sie stellt zwei Denkschulen vor, die darauf abzielen, diese Wechselwirkung zu erforschen, auch wenn beide für sich genommen in Orloffs Augen unzureichend sind. Der “soziale Reproduktionsansatz” untersucht, wie “staatliche Sozialpolitiken die Geschlechterbeziehungen regeln und zur sozialen Reproduktion der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beitragen.”10 Er stützt sich auf Schlüsselmechanismen wie die bereits erwähnte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, das von Fraser erwähnte Lohnsystem der Familie und die traditionelle Ehe mit ihrem “doppelten Standard der Sexualmoral.”10 In diesem Patriarchat ist die Staatsbürgerschaft geschlechtsspezifisch geworden, da Männer als Arbeitnehmer Ansprüche auf den Wohlfahrtsstaat erheben, während Frauen als Familienmitglieder und Versorgerinnen Ansprüche erheben. In den USA beschreibt Orloff diesen Umstand als ein “Zwei-Klassen-System.”11 Sie merkt jedoch an, dass dieser Analyse-Ansatz zum Scheitern verurteilt ist, da er Einheitlichkeit unterstellt und sich hauptsächlich auf ein Land konzentriert.
Die “Verbesserungs”-Position hingegen “basiert auf der allgemeinen Vorstellung, dass Wohlfahrtsstaaten soziale Ungleichheiten abbauen.”11 Die Idee besteht daraus, mehrere Wohlfahrtsstaaten zu vergleichen und eine länderübergreifende Analyse der Auswirkungen der Wohlfahrtssysteme auf die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu erstellen. Wiederum ist das Problem, dass dieser Ansatz nur einen einzigen Aspekt der Ungleichheit berücksichtigt: den wirtschaftlich-finanziellen. Durch den Fokus auf eine vergleichende Studie über die Armut von Frauen werden nicht nur andere komplexe Elemente der Ungleichheit vernachlässigt, sondern es wird auch außer Acht gelassen, dass Armut durch eine Vielzahl sozialer Faktoren verdeckt werden kann. Frauen, die mit wohlhabenden Männern verheiratet sind, werden beispielsweise in den Statistiken nicht als arm ausgewiesen, können aber im Falle eines Konflikts wie einer Scheidung sehr wohl zur Gruppe der Armen gehören.
Maternalismus
Orloff führt zwei verschiedene Anreize ein, um über das Problem nachzudenken. Zunächst befasst sie sich mit dem Mütterlichkeitsgedanken, von dem sie zeigt, dass er für die Reformerinnen, die in die Wohlfahrtsdebatte eintraten, eine zentrale argumentative Rolle spielte. “Koven & Michel (1993, S. 4) definieren Maternalismus als ‘Ideologien und Diskurse, die die Fähigkeit der Frauen zur Mutterschaft verherrlichten und die Werte, die sie mit dieser Rolle verbanden, auf die Gesellschaft als Ganzes übertrugen: Fürsorge, Pflege und Moral.’”12 Mit der Absicht, die unterschätzte Bedeutung der Fürsorgearbeit hervorzuheben, wurde eine Strategie entwickelt, die bereits bestehende Geschlechterstereotypen weiter vertiefte und die “Weiblichkeit” einmal mehr auf Mutterschaft beschränkte. Außerdem zog sie beispielsweise Pronatalist*innen an, die sich um sinkende Geburtenraten sorgten, und sie widersprach eindeutig den feministischen Idealen. Da sowohl maternalistische als auch paternalistische Wohlfahrtsstaaten die Geschlechterdifferenzierung und den Familienlohn unterstützten, lag der Hauptunterschied in der Verteilung der staatlichen Leistungen und darin, ob Männer als Haushaltsvorstände oder Frauen als Mütter und Hauptversorgerinnen unterstützt wurden. Orloff weist außerdem auf einen scheinbaren Widerspruch zwischen schwachen und starken Staaten in Bezug auf die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hin. Während in schwachen Staaten wie dem Vereinigten Königreich oder den USA die Frauenbewegungen im Allgemeinen stärker und sichtbarer waren, haben starke Staaten wie Deutschland oder Frankreich im Allgemeinen bessere Bedingungen für Frauen und Kinder geschaffen. Die wenigen vorhandenen Studien über die Wohlfahrtssysteme der Vorkriegszeit zeigen, dass die wichtigsten Variablen bei der Bestimmung von Quantität und Qualität der staatlichen Zuwendungen “(i) das Machtgleichgewicht zwischen Arbeitnehmer*innen, Arbeitgeber*innen und dem Staat; (ii) Diskurse und Ideologien über Mutterschaft, insbesondere die Frage, ob Mutterschaft als mit bezahlter Arbeit vereinbar angesehen wurde oder nicht; und (iii) Bedenken hinsichtlich der Qualität und Quantität der Bevölkerung” waren.12
Orloffs Essay enthält einen Bericht über eine länderübergreifende vergleichende Studie zu Geschlecht in zeitgenössischen Wohlfahrtsstaaten, die sie hauptsächlich im Rahmen des Esping-Andersen-Regimeprinzips organisiert, welches liberale, konservative und sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten als Typen identifiziert. Liberale Regime wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Großbritannien stellen den Markt und die Bereitstellung von Arbeitsplätzen in den Vordergrund und “bieten den Bürger*innen kaum Alternativen zur Teilnahme am Markt für Dienstleistungen und Einkommen.”13 In diesem Zusammenhang stellt Orloff fest, dass “die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen in den USA und der Aufstieg von Frauen in die oberen Ränge der Erwerbsbevölkerung weitgehend marktgesteuert sind.”13 Konservative Regime wie Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und die Niederlande fördern Status- und Klassenunterschiede. Konservative Regime sind Systeme, die auf der Prämisse der Subsidiarität aufgebaut sind—sie trauen ihren Bürger*innen ein hohes Maß an Eigenverantwortung zu und greifen nur dann regulierend ein, wenn es absolut notwendig ist. Dadurch wird die Abhängigkeit der Frauen von der Familie (Lohn) verstärkt. In Deutschland werden sie “durch ein Beschäftigungssystem, das sich an den Bedürfnissen der überwiegend männlichen Industriearbeiter orientiert, einen relativ unterentwickelten Dienstleistungssektor und eine staatliche Politik, die die Subsidiarität über die öffentliche Bereitstellung von Dienstleistungen stellt, weitgehend marginalisiert.”13 In den Niederlanden zielen die staatlichen Bestimmungen sowohl darauf ab, Carearbeit zu unterstützen, als auch eine Tagesbetreuung für beispielsweise Mütter zu fördern, damit diese erwerbstätig werden können. In sozialdemokratischen Regimen, wie sie in den nordischen Ländern vorherrschen, sind Universalismus und Egalitarismus zentrale Werte. Sie fördern “ein individuelles Anspruchsmodell und bieten Dienstleistungen an, die es denjenigen, die für Carearbeit verantwortlich gemacht werden—zumeist verheiratete Mütter—ermöglichen, in die bezahlte Erwerbsbevölkerung einzutreten”13 ohne durch eine doppelte Belastung benachteiligt zu sein.
Der Wohlfahrtsstaat steht und fällt mit der Gleichstellung der Geschlechter—heute mehr denn je. Es ist davon auszugehen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem in absehbarer Zeit nicht ersetzt werden wird, doch hat sich im Laufe der Geschichte gezeigt, dass es in der Lage ist, sich anzupassen, wenn es nötig ist. Silvia Federici, Ann Orloff und Nancy Fraser haben aufgezeigt, wie die verschiedenen Stadien des Kapitalismus jeweils mit ihren eigenen Kämpfen beschäftigt waren. Da der Kapitalismus dazu neigt, die gesellschaftlich reproduktive Arbeit an den Rand zu drängen und infolgedessen durch seine Implikationen destabilisiert wird, konzentrierten sich seine Lösungen zumeist auf die Unterdrückung der Frau, sei es durch die Beschränkung ihres Zugangs zum Arbeitsmarkt, durch Mechanismen, die sie in die häusliche Sphäre drängen, oder durch die Beschneidung ihrer Macht—sowohl in ökologischer als auch in sozialer Hinsicht. In der Industriegesellschaft, die von den viktorianischen Idealen der Häuslichkeit und Zurückhaltung geprägt war, war die Frau der Engel im Haushalt, zuständig für Kindererziehung und Hausarbeit. Ihr Ehemann, das Oberhaupt des Haushalts, verdiente ein Familieneinkommen, von dem sie und ihre Kinder abhängig waren. Als die Industriegesellschaft der postindustriellen Gesellschaft wich, die Produktionsarbeit in billigere Länder verlagert wurde und die reichen westlichen Länder von einer Dienstleistungs- und Schuldenwirtschaft geprägt waren, verschwanden die viktorianischen Ideale allmählich und machten den Weg frei für Veränderungen. Im aufkommenden Zweiverdienermodell wurden die Frauen ermutigt, sich am Arbeitsmarkt zu beteiligen. Ein Schritt in Richtung Emanzipation? Nicht ganz, denn die asymmetrische Dynamik der binären Geschlechter wurde dadurch nur geringfügig verändert. Sicher, Frauen konnten nun arbeiten und für ihren Lebensunterhalt sorgen, aber sie wurden nur selten ausreichend unterstützt, um dabei nicht in Armut zu versinken. Die Entscheidung, finanziell unabhängig von einem männlichen Ernährer zu sein, funktionierte nur für Frauen, die keine Betreuungsaufgaben zu erfüllen hatten. Für alleinerziehende Mütter oder solche, die kranke ältere Menschen pflegten, erwies es sich als Nachteil, da sie nun eine doppelte Verantwortung trugen. Um die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, reicht es nicht aus, die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt zu fördern, noch die Betreuungsarbeit zu unterstützen und Frauen deshalb vom Markt fernzuhalten. Stattdessen brauchen wir eine Vision der demokratisch-feministischen Gleichstellung aller Geschlechter.
LEKTORIERT VON LARA HELENA.
Fußnoten
1Fraser 2017:22 223 325 426 527 630 731 834 933
10Orloff 1996:53 1154–55 1257–58 1365–66
Bibliografie
Fraser, Nancy. “After the Family Wage: Gender Equity and the Welfare State.” Political Theory, Nov. 1994, pp. 591–618
Fraser, Nancy, and Tithi Bhattacharya. “Crisis of Care? On the Social-Reproductive Contradictions of Contemporary Capitalism.” Social Reproduction Theory: Remapping Class, Recentering Oppression, Pluto Press, 2017
Orloff, Ann. “Gender in the Welfare State.” Annual Reviews Sociology, 1996, pp. 51–78.
Federici, Silvia. Caliban and the Witch: Women, the Body and Primitive Accumulation. Autonomedia, 2014
Mercy Ferrars is a MA graduate in philosophy and writes fiction, poetry and non-fiction essays. She is madly in love with Scotland, dogs and Bojack Horseman.