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PHILOSOPHIE, FLINTA, SOZIOLOGIE

Geschlechtsspezifische Ungleichheit in postindustriellen Wohlfahrtsstaaten

by MERCY FERRARS

Pho­to: Cottonbro

01/09/2022

UNGLEICHHEIT BETRIFFT mar­gin­al­isierte Grup­pen in den meis­ten demokratis­chen Wohlfahrtsstaat­en. Sie ist nicht nur geschlechtsspez­i­fisch, son­dern bet­rifft auch jene, die nicht weiß, able-bod­ied, oder het­ero­sex­uell sind. Die pres­tigeträchtige gesellschaftliche Stel­lung weißer Män­ner ste­ht für einen lan­gen Kampf zwis­chen dem Nor­ma­tiv­en und dem Abwe­ichen­den, der sich min­destens bis ins frühe Mit­te­lal­ter zurück­ver­fol­gen lässt. In ein­er Zeit, die von einem rück­wärts­ge­wandten Glauben an Dämonolo­gie und Mythol­o­gisierung geprägt war, wur­den Frauen und queere Men­schen unter dem Vor­wurf der Hex­erei ver­fol­gt. Dieser Vor­wurf ver­drängte ihre frühere Emanzi­pa­tion. Die Hex­en­ver­fol­gung schaffte Naturheiler*innen und Hebam­men ab, krim­i­nal­isierte sex­uelle Befreiung, zer­störte die weib­liche Gemein­schaft und schuf eine frühe Form des Patri­ar­chats. Der dämo­nolo­gis­che Glaube recht­fer­tigte einen Krieg gegen Frauen und queere Men­schen, der in erster Lin­ie vom Klerus im Ein­klang mit der herrschen­den Klasse ide­ol­o­gisiert wurde. Unter dem Deck­man­tel des christlichen Glaubens war die Hex­en­ver­fol­gung in hohem Maße poli­tisch motiviert.

Als sich die Era der europäis­chen Hex­en­ver­fol­gun­gen dem Ende zuneigt, scheint die “wilde Frau” besiegt und ver­schmilzt mit dem vik­to­ri­an­is­chen Ide­al des “Hausen­gels.” Im neu ent­stande­nen Mod­ell der Kle­in­fam­i­lie war die Frau auf den häus­lichen Bere­ich beschränkt und für die gesellschaftliche Repro­duk­tion­sar­beit zuständig, für die sie nicht ent­lohnt und nicht entschädigt wurde. Damit erfuhr sie ein­mal mehr eine Mar­gin­al­isierung, die nun mit wirtschaftlichen Mit­teln, näm­lich der Sta­bil­isierung des Frühkap­i­tal­is­mus, begrün­det wurde. In dieser Zeit wur­den die Geschlechter­nor­men, die wir heute aufzubrechen suchen, entwick­elt und kul­turell repro­duziert. Nun fällt Carear­beit, Kindessozial­isierung und Haushalt­sar­beit der  Mut­ter­fig­ur zu und die Bere­it­stel­lung von Geld durch Lohnar­beit der Vater­fig­ur. In Europa wurde dies durch die frühkap­i­tal­is­tis­chen Entwick­lun­gen und die indus­tri­al­isierte Massen­pro­duk­tion um die Jahrhun­der­twende weit­er beschleunigt.

Heute wer­den Frauen mit Ungle­ich­heit kon­fron­tiert, die sich als Emanzi­pa­tion tarnt. Sie nehmen am Arbeits­markt teil und ver­fü­gen über demokratis­che Bürg­er­rechte. Bürg­er­rechte richt­en sich jedoch weit­er­hin nach Män­nern und männlichen Bedürfnis­sen, und erken­nen weib­liche Kör­p­er noch immer nicht als autark an. Die COVID-19-Pan­demie machte Ungle­ich­heit­en sicht­bar. Sie rück­te weib­liche Arbeit­nehmerin­nen in den Mit­telpunkt. Jene macht­en bere­its 2019 zwis­chen 70 und 90 Prozent der sys­tem­rel­e­van­ten Arbeitnehmer*innen in Deutsch­land aus, und mehr als 66 Prozent der erwerb­stäti­gen Müt­ter arbeit­eten in Teilzeit, während dies nur bei 6 Prozent der Väter der Fall war, wie Stu­di­en der Bun­de­sagen­tur für Arbeit und des Sta­tis­tis­chen Bun­de­samtes zeigen. Die Pan­demie drängt daher mehr denn je, Wohlfahrtsmod­elle zu über­denken und so anzu­passen, dass die Ungle­ich­heit zwis­chen den Geschlechtern sowie die Ungle­ich­heit ander­er sozialer Grup­pen aus­geglichen wird.

Cri­sis of Care

Nan­cy Fras­er, fem­i­nis­tis­che Philosophin und Her­aus­ge­berin des Fach­magazins Con­stel­la­tions, bietet eine poli­tis­che und ökonomis­che Darstel­lung der Auswirkun­gen der kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft auf die Ungle­ich­heit der Geschlechter in ihrem 2017 erschiene­nen Essay “Cri­sis of Care? On the Social-Repro­duc­tive Con­tra­dic­tions of Con­tem­po­rary Cap­i­tal­ism.” Fras­er sieht gesellschaftlich repro­duk­tive Arbeit im Kern jed­er funk­tion­ieren­den Gesellschaft, während sie die Krise­nan­fäl­ligkeit kap­i­tal­is­tis­ch­er Sys­teme dadurch bed­ingt sieht, dass sie nicht genü­gend Ressourcen für diese Arbeit bere­it­stellen. Daher definiert sie eine “Krise der Pflege” als direk­te Auswirkung des kon­tradik­tiv­en “finanzial­isierten neolib­eralen Kap­i­tal­is­mus unser­er Zeit.”1 Repro­duk­tion­sar­beit und Carear­beit for­men “die men­schlichen Sub­jek­te des Kap­i­tal­is­mus.”2 Doch obwohl diese Arbeit für die Aufrechter­hal­tung des kap­i­tal­is­tis­chen Sys­tems an sich uner­lässlich ist, wird sie mar­gin­al­isiert, abgew­ertet und vor allem nicht bezahlt. Während die Lohnar­beit als Arbeitsver­hält­nis gilt und in der Regel inner­halb Para­me­ter wie Arbeit­szeit­en, Pausen, fes­ten Gehäl­tern und Urlaub­sansprüchen ver­richtet wird, geht die sozial-repro­duk­tive Arbeit in das Pri­vatleben der­jeni­gen über, die sie ver­richt­en, bis zu dem Punkt, an dem sie ver­schmelzen. Carear­beit gilt als eine Tugend der Liebe. Mit dem im 19. Jahrhun­dert aufk­om­menden vik­to­ri­an­is­chen Bild des Weib­lichen, das von Werten wie Häus­lichkeit, Heimeligkeit und Für­sorge durch­drun­gen war, und der gle­ichzeit­i­gen Abw­er­tung solch­er Eigen­schaften in der Gesellschaft wur­den Frauen schon früh von den Märk­ten aus­ge­gren­zt. Während sie bere­its im 14. Jahrhun­dert als Ärztin­nen, Met­zgerin­nen oder Lehrerin­nen tätig waren, treten sie nun in den Hin­ter­grund und über­lassen die Bühne dem männlichen Lohnar­beit­er. Diese Mar­gin­al­isierung vom Markt markierte fol­glich einen entschei­den­den Schritt in der Unterord­nung der Frauen, nicht nur in der wirtschaftlichen, son­dern auch in der poli­tis­chen und sozialen Sphäre.

Hierin liegt der Wider­spruch der jüng­sten Phase des Kap­i­tal­is­mus, ein­er Krise, die an den Gren­zen der Bere­iche von Pro­duk­tion und Repro­duk­tion ange­siedelt ist. Eine Krise die oft stumm und unsicht­bar ist wird spür­bar, wenn sich das Sys­tem von den sozialen Kräften löst, von denen es abhängt: “Indem sie ihre eige­nen Bedin­gun­gen der Möglichkeit zer­stört, frisst die Akku­mu­la­tions­dy­namik des Kap­i­tals effek­tiv ihren eige­nen Schwanz,” schreibt Fras­er.3 Während dieser Wider­spruch für den Kap­i­tal­is­mus als solchen von zen­traler Bedeu­tung ist, ist jedes Sta­di­um des Kap­i­tal­is­mus an seine eige­nen “Gren­zkämpfe” gebun­den und muss daher genauer unter­sucht werden.

Die späte vorindus­trielle Gesellschaft: Lib­eraler Wettbewerbskapitalismus

In der früh­esten Phase des lib­eralen Wet­tbe­werb­skap­i­tal­is­mus des 19. Jahrhun­derts iden­ti­fiziert Fras­er ein baldiges Beispiel für die dem Kap­i­tal­is­mus innewohnende Ten­denz zur Insta­bil­ität am Beispiel armer Arbei­t­erin­nen, die in Fab­riken für bil­lige Arbeit unter harten Arbeits­be­din­gun­gen herange­zo­gen wer­den. Eine der­art aus­ge­beutete Arbei­t­erin wird sich höchst­wahrschein­lichdie unlängst von einem misog­y­nen Genozid trau­ma­tisiert wurde nach Ende ihrer Tätigkeit nicht um Carear­beit küm­mern, und eben­so wenig wird die Arbei­t­erin, die unlängst von einem misog­y­nen Genozid trau­ma­tisiert wurde, in der Lage sein, vik­to­ri­an­is­che Ide­ale der Häus­lichkeit zu erfüllen. Fras­er zeigt eine sich abze­ich­nende zwei­gleisige Krise: ein­er­seits der “sozialen Repro­duk­tion in den armen und arbei­t­en­den Klassen,” ander­er­seits die “ moralis­che Panik in den Mit­telschicht­en, die sich über das, was sie als ‘Zer­störung der Fam­i­lie’ und die ‘Ent­geschlechtlichung’ der pro­le­tarischen Frauen ver­standen, empörten.”4 Als Reak­tion auf eine solche Krise, die viele—darunter Marx und Engels—für das Ende des Kap­i­tal­is­mus hiel­ten, wurde “der Kampf um die Integrität der sozialen Repro­duk­tion mit der Vertei­di­gung der männlichen Vorherrschaft ver­woben,”5 indem die (Kern-)Familie neu definiert und die Unter­schiedlichkeit der Geschlechter her­vorge­hoben wurde. Mit dieser Umstruk­turierung der frühin­dus­triellen Gesellschaft hoffte man, den dro­hen­den Zusam­men­bruch des Sys­tems abwen­den zu kön­nen, indem man Frauen und Män­ner in ihren jew­eili­gen Domä­nen fes­thielt und die soziale Sta­bil­ität sich­er­stellte. Inter­es­sant an Frasers Analyse dieser früh­esten Form des Kap­i­tal­is­mus ist die Erwäh­nung der lib­eralen fem­i­nis­tis­chen Bewe­gun­gen, die sich um eine Angle­ichung der Sit­u­a­tion der Frauen an die der Män­ner bemüht­en. Während die Wiedere­ingliederung der Frauen in den Arbeits­markt zur ober­sten Pri­or­ität wurde, wurde die Gle­ich­berech­ti­gung in der Repro­duk­tion jedoch vernachlässigt. 

Die Indus­triege­sellschaft: Der staatlich gelenk­te Kapitalismus 

Während der frühe lib­erale Kap­i­tal­is­mus unter ein­er Insta­bil­ität­skrise im Bere­ich der Repro­duk­tion litt und das vik­to­ri­an­is­che Fam­i­lien­mod­ell des Lohnar­beit­ers und des Engels im Haushalt her­vor­brachte, basierte der nach dem Zweit­en Weltkrieg ent­standene staatlich ver­wal­tete Kap­i­tal­is­mus “im Kern auf indus­trieller Großpro­duk­tion und häus­lichem Kon­sum”3 und ver­suchte, die Sta­bil­ität des Sys­tems durch einen noch stärk­eren Fokus auf die Unter­stützung der sozialen Repro­duk­tion durch staatliche Sozialleis­tun­gen zu ret­ten. Dies war nicht auss­chließlich eine schlechte Entwick­lung. Zum einen erkan­nte die kap­i­tal­is­tis­che Elite die Bedeu­tung der gesellschaftlich repro­duk­tiv­en Arbeit als Mit­tel zur Aufrechter­hal­tung der Kap­i­ta­lakku­mu­la­tion über einen län­geren Zeitraum hin­weg und ver­lagerte ihre Bestre­bun­gen auf die Sta­bil­isierung der her­aufziehen­den Krise. Diese neue Zielset­zung war jedoch nur dann real­isier­bar, wenn das Poten­zial für end­los­es Wach­s­tum gegeben war, was wiederum durch die Sicherung ein­er aus­re­ichen­den Kon­sum­nach­frage gewährleis­tet wer­den musste. Dem Haushalt wurde in diesem Sta­bil­isierung­sprozess also eine dop­pelte Rolle zugewiesen: Er beherbergte nicht nur die Kapaz­itäten für die soziale Repro­duk­tion, son­dern wurde auch zum Haup­tkon­sumenten, der Massen­waren anhäufte, welche das Fam­i­lien­leben bere­ich­ern soll­ten.6 Vor allem aber ver­schoben sich die Werte der Arbeit­erk­lasse hin zu ein­er größeren Bedeu­tung des Fam­i­lien­lebens über wirtschaftliche Effizienz und Massen­pro­duk­tion. Da die Fam­i­lie zur Grund­lage der sozialen Organ­i­sa­tion und dadurch zu ein­er entschei­den­den sozialen Insti­tu­tion wurde, forderte die Arbeit­erk­lasse volle Staats­bürg­er­schaft und poli­tis­che Teil­habe. “Im Gegen­satz zu den Schutzge­set­zen des lib­eralen Regimes war die staatskap­i­tal­is­tis­che Regelung das Ergeb­nis eines Klassenkom­pro­miss­es und stellte einen demokratis­chen Fortschritt dar”, bemerkt Fras­er6, da der Staat eine wesentliche Rolle bei der Bere­it­stel­lung von Sozialleis­tun­gen über­nahm. In erster Lin­ie stellt die Sozialfür­sorge in ihren frühen For­men jedoch ein ökopoli­tis­ches Instru­ment dar, um die Pro­duk­tion langfristig zu max­imieren und die Krisen­ten­denz zu sta­bil­isieren. Die Idee eines “Fam­i­lien­lohns” wurde stark gefördert, und “durch die Insti­tu­tion­al­isierung androzen­trisch­er Auf­fas­sun­gen von Fam­i­lie und Arbeit wur­den Het­ero­nor­ma­tiv­ität und Geschlechter­hier­ar­chie nat­u­ral­isiert und weit­ge­hend der poli­tis­chen Auseinan­der­set­zung ent­zo­gen”.7 Dieser Schritt war ein zen­traler Aus­lös­er für die Entste­hung der mod­er­nen Geschlechterun­gle­ich­heit, und die Durch­set­zungskraft des Mod­ells beweist ein Inter­esse an sozialer Wohlfahrt als Sicherung von Macht und Kap­i­tal über sozialer Gleichheit. 

Die postin­dus­trielle Gesellschaft: Der finanzial­isierte Kapitalismus 

Das jüng­ste kap­i­tal­is­tis­che Regime ent­stand in den 1980er Jahren als Reak­tion auf die postin­dus­trielle Gesellschaft der demokratis­chen west­lichen Staat­en. In ein­er Gesellschaft, die auf dem Han­del mit Dien­stleis­tun­gen statt auf der Massen­pro­duk­tion von Gütern basiert, wird die Pro­duk­tion in Län­der mit niedri­gen Löh­nen ver­lagert, während Kapitalist*innen fordern, dass Frauen auf den Lohnar­beits­markt zurück­kehren.3 Fol­glich entzieht sich der Staat mehr und mehr aus Sozialfür­sorge, was zu ein­er Über­beanspruchung der Carear­beit und ein­er Kon­fig­u­ra­tion hin zu ein­er Zen­tral­ität von Schulden führt.

“Das Kap­i­tal kan­ni­bal­isiert zunehmend die Arbeit, diszi­plin­iert die Staat­en, trans­feriert den Reich­tum von der Periph­erie zum Kern und entzieht den Haushal­ten, Fam­i­lien, Gemein­schaften und der Natur den Wert.” (Fras­er 2017: 32)

Eine drastis­che Verän­derung der Fam­i­lien­formel erset­zt langsam das Ide­al der Kern­fam­i­lie: Eine Zunahme von Schei­dun­gen, Allein­erziehen­den und queeren Fam­i­lien machen es unmöglich, dass der Fam­i­lien­lohn den Test der Zeit über­ste­ht. Das mod­erne Ide­al ist somit die Zwei-Ver­di­ener-Fam­i­lie gewor­den. Doch sowohl für Zwei-Ver­di­ener-Fam­i­lien als auch für allein­erziehende Müt­ter, die auf dem Arbeits­markt beschäftigt sind, bedeutet dies eine Abnahme der Kapaz­ität für Carear­beit, die nach wie vor die Säule des Kap­i­tal­is­mus schlechthin ist. Die bekan­nte Insta­bil­ität­s­ten­denz des kap­i­tal­is­tis­chen Sys­tems wird jedoch entwed­er durch “glob­ale Betreu­ungs­ket­ten”8 aus­geglichen, in denen reichere Fam­i­lien vor allem ärmere, nichtweiße Frauen beschäfti­gen, oder durch eine Zunahme der Armut unter allein­erziehen­den Müt­tern, die sich die Kinder­be­treu­ung nicht leis­ten kön­nen und daher auf Teilzeitjobs beschränkt sind, die kaum das Exis­tenzmin­i­mum deck­en. Wir sehen im mod­er­nen kap­i­tal­is­tis­chen Regime eine klaf­fende Ungle­ich­heit zwis­chen den Geschlechtern als Überbleib­sel früher­er kap­i­tal­is­tis­ch­er Regime und eine gle­ichzeit­ige Zunahme und Aus­rich­tung auf Emanzi­pa­tion. Indem die Frauen in den Markt zurück­ge­holt wer­den, erhal­ten sie Zugang zu finanzieller Unab­hängigkeit und, je nach Art ihres Berufs, schließlich eine Stimme in der Entschei­dungs­find­ung und im öffentlichen Raum. Frauen wer­den in ihren poli­tis­chen und Büger­recht­en den Män­nern (wenn auch unzure­ichend) gle­ichgestellt. Den­noch liegt die Haupt­last der Carear­beit auf den Schul­tern der Frauen. Infolgedessen hat sich die Sit­u­a­tion der Frauen unter diesem neuen Regime asym­metrisch verän­dert, mit ein­er Zunahme der Mark­t­beteili­gung und ein­er Abnahme der staatlich investierten Unter­stützung für die Carear­beit sind sie nun ein­er dop­pel­ten Arbeits­be­las­tung aus­ge­set­zt, die mit zunehmender Armut ein­herge­ht. Das Ergeb­nis ist “ein ‘pro­gres­siv­er’ Neolib­er­al­is­mus, der ‘Vielfalt,’ ‘Leis­tungs­ge­sellschaft’ und ‘Emanzi­pa­tion’ feiert, während er gle­ichzeit­ig soziale Schutzmech­a­nis­men abbaut und die soziale Repro­duk­tion re-exter­nal­isiert.”9 

Vergeschlechtlichte Wohlfahrt

Die amerikanis­che Sozi­olo­gin Ann Orloff ergänzt die Rekon­struk­tion der gegen­wär­tig vorherrschen­den Geschlechterun­gle­ich­heit durch eine ver­gle­ichende Analyse. In Gen­der in the Wel­fare State (1996) fasst sie die polar­isieren­den Posi­tio­nen zur Wech­sel­wirkung zwis­chen Wohlfahrtsstaat und Geschlechter­ver­hält­nis­sen zusam­men. Sie stellt zwei Denkschulen vor, die darauf abzie­len, diese Wech­sel­wirkung zu erforschen, auch wenn bei­de für sich genom­men in Orloffs Augen unzure­ichend sind. Der “soziale Repro­duk­tion­sansatz” unter­sucht, wie “staatliche Sozialpoli­tiken die Geschlechter­beziehun­gen regeln und zur sozialen Repro­duk­tion der Ungle­ich­heit zwis­chen den Geschlechtern beitra­gen.”10 Er stützt sich auf Schlüs­selmech­a­nis­men wie die bere­its erwäh­nte geschlechtsspez­i­fis­che Arbeit­steilung, das von Fras­er erwäh­nte Lohn­sys­tem der Fam­i­lie und die tra­di­tionelle Ehe mit ihrem “dop­pel­ten Stan­dard der Sex­ual­moral.”10 In diesem Patri­ar­chat ist die Staats­bürg­er­schaft geschlechtsspez­i­fisch gewor­den, da Män­ner als Arbeit­nehmer Ansprüche auf den Wohlfahrtsstaat erheben, während Frauen als Fam­i­lien­mit­glieder und Ver­sorg­erin­nen Ansprüche erheben. In den USA beschreibt Orloff diesen Umstand als ein “Zwei-Klassen-Sys­tem.”11 Sie merkt jedoch an, dass dieser Analyse-Ansatz zum Scheit­ern verurteilt ist, da er Ein­heitlichkeit unter­stellt und sich haupt­säch­lich auf ein Land konzentriert. 

Die “Verbesserungs”-Position hinge­gen “basiert auf der all­ge­meinen Vorstel­lung, dass Wohlfahrtsstaat­en soziale Ungle­ich­heit­en abbauen.”11 Die Idee beste­ht daraus, mehrere Wohlfahrtsstaat­en zu ver­gle­ichen und eine län­derüber­greifende Analyse der Auswirkun­gen der Wohlfahrtssys­teme auf die Ungle­ich­heit zwis­chen den Geschlechtern zu erstellen. Wiederum ist das Prob­lem, dass dieser Ansatz nur einen einzi­gen Aspekt der Ungle­ich­heit berück­sichtigt: den wirtschaftlich-finanziellen. Durch den Fokus auf eine ver­gle­ichende Studie über die Armut von Frauen wer­den nicht nur andere kom­plexe Ele­mente der Ungle­ich­heit ver­nach­läs­sigt, son­dern es wird auch außer Acht gelassen, dass Armut durch eine Vielzahl sozialer Fak­toren verdeckt wer­den kann. Frauen, die mit wohlhaben­den Män­nern ver­heiratet sind, wer­den beispiel­sweise in den Sta­tis­tiken nicht als arm aus­gewiesen, kön­nen aber im Falle eines Kon­flik­ts wie ein­er Schei­dung sehr wohl zur Gruppe der Armen gehören. 

Mater­nal­is­mus

Orloff führt zwei ver­schiedene Anreize ein, um über das Prob­lem nachzu­denken. Zunächst befasst sie sich mit dem Müt­ter­lichkeits­gedanken, von dem sie zeigt, dass er für die Reformerin­nen, die in die Wohlfahrts­de­bat­te ein­trat­en, eine zen­trale argu­men­ta­tive Rolle spielte. “Koven & Michel (1993, S. 4) definieren Mater­nal­is­mus als ‘Ide­olo­gien und Diskurse, die die Fähigkeit der Frauen zur Mut­ter­schaft ver­her­rlicht­en und die Werte, die sie mit dieser Rolle ver­ban­den, auf die Gesellschaft als Ganzes übertru­gen: Für­sorge, Pflege und Moral.’”12 Mit der Absicht, die unter­schätzte Bedeu­tung der Für­sorgear­beit her­vorzuheben, wurde eine Strate­gie entwick­elt, die bere­its beste­hende Geschlechter­stereo­typen weit­er ver­tiefte und die “Weib­lichkeit” ein­mal mehr auf Mut­ter­schaft beschränk­te. Außer­dem zog sie beispiel­sweise Pronatalist*innen an, die sich um sink­ende Geburten­rat­en sorgten, und sie wider­sprach ein­deutig den fem­i­nis­tis­chen Ide­alen. Da sowohl mater­nal­is­tis­che als auch pater­nal­is­tis­che Wohlfahrtsstaat­en die Geschlech­ter­dif­feren­zierung und den Fam­i­lien­lohn unter­stützten, lag der Haup­tun­ter­schied in der Verteilung der staatlichen Leis­tun­gen und darin, ob Män­ner als Haushaltsvorstände oder Frauen als Müt­ter und Hauptver­sorg­erin­nen unter­stützt wur­den. Orloff weist außer­dem auf einen schein­baren Wider­spruch zwis­chen schwachen und starken Staat­en in Bezug auf die Ungle­ich­heit zwis­chen den Geschlechtern hin. Während in schwachen Staat­en wie dem Vere­inigten Kön­i­gre­ich oder den USA die Frauen­be­we­gun­gen im All­ge­meinen stärk­er und sicht­bar­er waren, haben starke Staat­en wie Deutsch­land oder Frankre­ich im All­ge­meinen bessere Bedin­gun­gen für Frauen und Kinder geschaf­fen. Die weni­gen vorhan­de­nen Stu­di­en über die Wohlfahrtssys­teme der Vorkriegszeit zeigen, dass die wichtig­sten Vari­ablen bei der Bes­tim­mung von Quan­tität und Qual­ität der staatlichen Zuwen­dun­gen “(i) das Macht­gle­ichgewicht zwis­chen Arbeitnehmer*innen, Arbeitgeber*innen und dem Staat; (ii) Diskurse und Ide­olo­gien über Mut­ter­schaft, ins­beson­dere die Frage, ob Mut­ter­schaft als mit bezahlter Arbeit vere­in­bar ange­se­hen wurde oder nicht; und (iii) Bedenken hin­sichtlich der Qual­ität und Quan­tität der Bevölkerung” waren.12 

Orloffs Essay enthält einen Bericht über eine län­derüber­greifende ver­gle­ichende Studie zu Geschlecht in zeit­genös­sis­chen Wohlfahrtsstaat­en, die sie haupt­säch­lich im Rah­men des Esp­ing-Ander­sen-Regimeprinzips organ­isiert, welch­es lib­erale, kon­ser­v­a­tive und sozialdemokratis­che Wohlfahrtsstaat­en als Typen iden­ti­fiziert. Lib­erale Regime wie die Vere­inigten Staat­en, Kana­da, Aus­tralien und Großbri­tan­nien stellen den Markt und die Bere­it­stel­lung von Arbeit­splätzen in den Vorder­grund und “bieten den Bürger*innen kaum Alter­na­tiv­en zur Teil­nahme am Markt für Dien­stleis­tun­gen und Einkom­men.”13 In diesem Zusam­men­hang stellt Orloff fest, dass “die steigende Erwerb­stätigkeit von Frauen in den USA und der Auf­stieg von Frauen in die oberen Ränge der Erwerb­s­bevölkerung weit­ge­hend mark­t­ges­teuert sind.”13 Kon­ser­v­a­tive Regime wie Öster­re­ich, Frankre­ich, Deutsch­land, Ital­ien und die Nieder­lande fördern Sta­tus- und Klasse­nun­ter­schiede. Kon­ser­v­a­tive Regime sind Sys­teme, die auf der Prämisse der Sub­sidiar­ität aufge­baut sind—sie trauen ihren Bürger*innen ein hohes Maß an Eigen­ver­ant­wor­tung zu und greifen nur dann reg­ulierend ein, wenn es abso­lut notwendig ist. Dadurch wird die Abhängigkeit der Frauen von der Fam­i­lie (Lohn) ver­stärkt. In Deutsch­land wer­den sie “durch ein Beschäf­ti­gungssys­tem, das sich an den Bedürfnis­sen der über­wiegend männlichen Indus­triear­beit­er ori­en­tiert, einen rel­a­tiv unter­en­twick­el­ten Dien­stleis­tungssek­tor und eine staatliche Poli­tik, die die Sub­sidiar­ität über die öffentliche Bere­it­stel­lung von Dien­stleis­tun­gen stellt, weit­ge­hend mar­gin­al­isiert.”13 In den Nieder­lan­den zie­len die staatlichen Bes­tim­mungen sowohl darauf ab, Carear­beit zu unter­stützen, als auch eine Tages­be­treu­ung für beispiel­sweise Müt­ter zu fördern, damit diese erwerb­stätig wer­den kön­nen. In sozialdemokratis­chen Reg­i­men, wie sie in den nordis­chen Län­dern vorherrschen, sind Uni­ver­sal­is­mus und Egal­i­taris­mus zen­trale Werte. Sie fördern “ein indi­vidu­elles Anspruchsmod­ell und bieten Dien­stleis­tun­gen an, die es den­jeni­gen, die für Carear­beit ver­ant­wortlich gemacht werden—zumeist ver­heiratete Mütter—ermöglichen, in die bezahlte Erwerb­s­bevölkerung einzutreten”13 ohne durch eine dop­pelte  Belas­tung benachteiligt zu sein. 

Der Wohlfahrtsstaat ste­ht und fällt mit der Gle­ich­stel­lung der Geschlechter—heute mehr denn je. Es ist davon auszuge­hen, dass das kap­i­tal­is­tis­che Wirtschaftssys­tem in abse­hbar­er Zeit nicht erset­zt wer­den wird, doch hat sich im Laufe der Geschichte gezeigt, dass es in der Lage ist, sich anzu­passen, wenn es nötig ist. Sil­via Fed­eri­ci, Ann Orloff und Nan­cy Fras­er haben aufgezeigt, wie die ver­schiede­nen Sta­di­en des Kap­i­tal­is­mus jew­eils mit ihren eige­nen Kämpfen beschäftigt waren. Da der Kap­i­tal­is­mus dazu neigt, die gesellschaftlich repro­duk­tive Arbeit an den Rand zu drän­gen und infolgedessen durch seine Imp­lika­tio­nen desta­bil­isiert wird, konzen­tri­erten sich seine Lösun­gen zumeist auf die Unter­drück­ung der Frau, sei es durch die Beschränkung ihres Zugangs zum Arbeits­markt, durch Mech­a­nis­men, die sie in die häus­liche Sphäre drän­gen, oder durch die Beschnei­dung ihrer Macht—sowohl in ökol­o­gis­ch­er als auch in sozialer Hin­sicht. In der Indus­triege­sellschaft, die von den vik­to­ri­an­is­chen Ide­alen der Häus­lichkeit und Zurück­hal­tung geprägt war, war die Frau der Engel im Haushalt, zuständig für Kinder­erziehung und Hausar­beit. Ihr Ehe­mann, das Ober­haupt des Haushalts, ver­di­ente ein Fam­i­lieneinkom­men, von dem sie und ihre Kinder abhängig waren. Als die Indus­triege­sellschaft der postin­dus­triellen Gesellschaft wich, die Pro­duk­tion­sar­beit in bil­ligere Län­der ver­lagert wurde und die reichen west­lichen Län­der von ein­er Dien­stleis­tungs- und Schulden­wirtschaft geprägt waren, ver­schwan­den die vik­to­ri­an­is­chen Ide­ale allmäh­lich und macht­en den Weg frei für Verän­derun­gen. Im aufk­om­menden Zweiver­di­ener­mod­ell wur­den die Frauen ermutigt, sich am Arbeits­markt zu beteili­gen. Ein Schritt in Rich­tung Emanzi­pa­tion? Nicht ganz, denn die asym­metrische Dynamik der binären Geschlechter wurde dadurch nur ger­ingfügig verän­dert. Sich­er, Frauen kon­nten nun arbeit­en und für ihren Leben­sun­ter­halt sor­gen, aber sie wur­den nur sel­ten aus­re­ichend unter­stützt, um dabei nicht in Armut zu versinken. Die Entschei­dung, finanziell unab­hängig von einem männlichen Ernährer zu sein, funk­tion­ierte nur für Frauen, die keine Betreu­ungsauf­gaben zu erfüllen hat­ten. Für allein­erziehende Müt­ter oder solche, die kranke ältere Men­schen pflegten, erwies es sich als Nachteil, da sie nun eine dop­pelte Ver­ant­wor­tung tru­gen. Um die Gle­ich­stel­lung der Geschlechter zu erre­ichen, reicht es nicht aus, die Beteili­gung von Frauen am Arbeits­markt zu fördern, noch die Betreu­ungsar­beit zu unter­stützen und Frauen deshalb vom Markt fernzuhal­ten. Stattdessen brauchen wir eine Vision der demokratisch-fem­i­nis­tis­chen Gle­ich­stel­lung aller Geschlechter. 

LEKTORIERT VON LARA HELENA.

Fußnoten

1Fras­er 2017:22 223 325 426 527 630 731 834 933 

10Orloff 1996:53 1154–55 1257–58 1365–66

Bib­li­ografie

Fras­er, Nan­cy. “After the Fam­i­ly Wage: Gen­der Equi­ty and the Wel­fare State.” Polit­i­cal The­o­ry, Nov. 1994, pp. 591–618

Fras­er, Nan­cy, and Tithi Bhat­tacharya. “Cri­sis of Care? On the Social-Repro­duc­tive Con­tra­dic­tions of Con­tem­po­rary Cap­i­tal­ism.” Social Repro­duc­tion The­o­ry: Remap­ping Class, Recen­ter­ing Oppres­sion, Plu­to Press, 2017

Orloff, Ann. “Gen­der in the Wel­fare State.” Annu­al Reviews Soci­ol­o­gy, 1996, pp. 51–78. 

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Mer­cy Fer­rars is a MA grad­u­ate in phi­los­o­phy and writes fic­tion, poet­ry and non-fic­tion essays. She is mad­ly in love with Scot­land, dogs and Bojack Horseman.

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