On Endurance, Nahaufnahme, Prosa

Schnürsenkeltage

by NORA GROSSMANN

Foto von Maria Fer­nan­da Pis­si­oli auf Unsplash

23/12/2023


An manchen Tagen nimmt sie die alten Turn­schuhe aus dem Regal, die mit den bun­ten Schnürsenkeln. Das sind die Tage, an denen Prob­leme unlös­bar erscheinen, an denen sie sich darin ver­hed­dert. Tage wie heute: Wenn sie sich mor­gens abhet­zen muss, weil sie ver­schlafen hat. Weil die Nach­barin sie gestern so schief angeschaut hat. Weil ihre Erin­nerun­gen sie wach hiel­ten und weil ihr vor dem Meet­ing mor­gen graute — das jet­zt heute ist. Wenn sie beim Früh­stück ihre halb­herzig hingeschmierten Noti­zen für die Präsen­ta­tion über­fliegt, ihr die Worte ent­fall­en und sie den Überblick ver­liert. Wenn es ihr schw­er fällt, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn sie sich dabei den Kaf­fee über die Bluse schüt­tet.

Die Schleifen zu binden ist wie eine kleine Med­i­ta­tion: eine Gele­gen­heit zum Innehal­ten. Heute sind die Schnüre grün. Sie passen nicht zu der Strumpfhose und dem schwarzen Rock, aber das macht nichts. Die Schuhe stam­men noch aus ihrer Schulzeit, waren voll in. Die Erin­nerung reicht ihr, um sich schick zu fühlen — nicht Busi­ness-schick, son­dern cool und unbezwing­bar. Als Kind wollte sie unbe­d­ingt solche kitschi­gen Lackschuhe haben, die mit Schleifen. Darin fühlte sie sich edel und erwach­sen. Ihr Groß­vater brachte ihr bei, sie zu binden. „Damit du selb­st­ständig auf­brechen kannst“, hat er damals gesagt. Einige Jahre später ist sie aufge­brochen. Allein. Aber in den coolen Turn­schuhen. Sie ver­knotet die bei­den Schlaufen erneut, damit sie auch sich­er hal­ten, so wie ihr Groß­vater es ihr gezeigt hat. „Eine Zauber­schleife, damit du deine Schuhe nie ver­lierst.“

Sie atmet tief durch, bevor sie los­ren­nt. Auch wenn sie spät dran ist, kann sie die Zeit mit einem Sprint zur S‑Bahn wieder ein­holen. Die Schuhe sind aus­ge­blichen und aus­ge­treten, die Sohlen schon ganz dünn: weich und biegsam. Das stört sie nicht. So spürt sie den Boden unter ihren Füßen mit all seinen Uneben­heit­en. Sie achtet darauf, nicht zu stolpern über die Wurzeln, die den Asphalt in ihrer Straße aufgeris­sen haben, und über die Kantsteine und Schlaglöch­er und all die anderen Stolper­fall­en.
Heute läuft sie die ganze Strecke. Eigentlich ist es nicht weit, aber ihre üblichen
Stöck­elschuhe rutschen und drück­en und zwän­gen sie Tag für Tag in die stick­i­gen Züge. Doch ihre Turn­schuhe bieten ihr Frei­heit. 

Wenn sie läuft, kann sie atmen. Wenn sie läuft, ist sie frei. Wenn sie läuft, kann sie ihre Gedanken ent­knoten. Dann erin­nert sie sich, wie weit ihre Schuhe sie schon getra­gen haben, und weiß, dass der Weg ins Büro keine echte Hürde ist. Sie ren­nt so lange, bis sie merkt, dass sie nicht mehr ren­nen muss. Manch­mal hält sie an, bei einem beson­ders verzwick­ten Gedanken. Dann bindet sie ihre Schleifen neu und knotet ihre Sor­gen mit ein. In Grün wirken sie weniger bedrohlich.

Sie exper­i­men­tiert gerne mit den Wegen. Inzwis­chen ken­nt sie 17 ver­schiedene Streck­en ins Büro – haupt­säch­lich Umwege. Mit jedem weit­eren lernt sie die Stadt ein biss­chen bess­er ken­nen, kommt ein biss­chen mehr hier an.

Und wenn sie das Büro erre­icht hat und im Meet­ing sitzt, für das sie nicht gut vor­bere­it­et ist, dann wippt sie unterm Tisch mit den bun­ten Schuhen, was nie­mand sieht, weil nie­mand so genau hin­schaut, erst recht nicht unter den Tisch, und das beruhigt sie irgend­wie: dass sie nicht auf­fällt. Dass nie­mand merkt, dass sie eigentlich nicht hier­hin gehört. Sie fährt mit der Fußspitze die Rillen im grauen Tep­pich nach und wartet auf ihre Präsen­ta­tion. Und wenn sie an der Rei­he ist, ste­ht sie sich­er auf dem Boden ohne Angst, über die Worte zu stolpern. Dann ver­hed­dert sich ihre Zunge nicht. Dann lächelt sie über die Zauber­schleifen und ihr Pub­likum lächelt auch.

Auf dem Rück­weg wählt sie den läng­sten der 17 Wege. Sie trödelt, lässt sich von den Grü­beleien der let­zten Nacht ein­holen. Unter freiem Him­mel engen sie weniger ein. Und die Bewe­gung hil­ft ihr, inner­lich zur Ruhe zu kom­men.

Über die Jahre ist das Led­er weich gewor­den und hat sich an ihre Füße geschmiegt, als wären die Schuhe maßgeschnei­dert. Sie fühlen sich nach Zuhause an. Sie sind alles, was noch geblieben ist, von damals. Die Turn­schuhe haben sie über kaputte Straßen getra­gen und Stachel­drahtzäune, durch Auf­fanglager und Behör­den und durch eine fremde Stadt, deren ver­wor­rene Straßen ihr nach und nach ver­traut gewor­den sind. So ver­traut, dass sie manch­mal ver­gisst, je woan­ders gelebt zu haben.
Gedanken­ver­sunken stolpert sie beina­he, als sich eine Schleife löst. Sie kni­et sich nieder und fum­melt an den Bän­dern herum. An eini­gen Stellen sind die Schnüre aus­ge­franst, wer­den nur noch von einem dün­nen Faden zusam­menge­hal­ten, nach ständi­gem Reiben und Zupfen und Zer­ren. Sie weiß nicht, wie sie nach Hause kommt, denn die S‑Bahn ist schon abge­fahren.

An Tagen wie diesen hält sie auf dem Heimweg beim Schus­ter. Den Let­zten, den es noch gibt in dieser Stadt. Er flickt aufge­platzte Nähte, klebt Sohlen fest, tauscht die aufgeribbel­ten Schnürsenkel gegen neue aus. Heute wählt sie Neon-Pink. Während er arbeit­et, erzählt sie ihm vom Meet­ing und den Grü­beleien und von all den Knoten in ihrem Hirn und in ihrem Herzen. Eigentlich redet er nicht mit Kund­schaft, nur bei ihr macht er eine Aus­nahme. Sie ver­ste­hen sich. Sie sprechen dieselbe Sprache.
Hin­ter­her fühlen sich ihre Schritte leichter an. Sie hüpft, so wie früher nach der Schule, und winkt ihrer Nach­barin im Vor­bei­hüpfen zu. Leicht­füßig tänzelt sie über die ver­traut­en Wurzeln und Kantsteine hin­weg. Dann wird ihr bewusst, dass sie auf dem Heimweg ist.

Und wenn sie zu Hause die Zauber­schleifen löst, löst sich alles auf: die Knoten an ihren Füßen und in ihrem Herzen und in ihrem Kopf. Ein­fach so.

Lek­to­ri­ert von Michelle Markau.


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