On Endurance, Nahaufnahme, Prosa
Schnürsenkeltage
by NORA GROSSMANN
23/12/2023
An manchen Tagen nimmt sie die alten Turnschuhe aus dem Regal, die mit den bunten Schnürsenkeln. Das sind die Tage, an denen Probleme unlösbar erscheinen, an denen sie sich darin verheddert. Tage wie heute: Wenn sie sich morgens abhetzen muss, weil sie verschlafen hat. Weil die Nachbarin sie gestern so schief angeschaut hat. Weil ihre Erinnerungen sie wach hielten und weil ihr vor dem Meeting morgen graute — das jetzt heute ist. Wenn sie beim Frühstück ihre halbherzig hingeschmierten Notizen für die Präsentation überfliegt, ihr die Worte entfallen und sie den Überblick verliert. Wenn es ihr schwer fällt, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn sie sich dabei den Kaffee über die Bluse schüttet.
Die Schleifen zu binden ist wie eine kleine Meditation: eine Gelegenheit zum Innehalten. Heute sind die Schnüre grün. Sie passen nicht zu der Strumpfhose und dem schwarzen Rock, aber das macht nichts. Die Schuhe stammen noch aus ihrer Schulzeit, waren voll in. Die Erinnerung reicht ihr, um sich schick zu fühlen — nicht Business-schick, sondern cool und unbezwingbar. Als Kind wollte sie unbedingt solche kitschigen Lackschuhe haben, die mit Schleifen. Darin fühlte sie sich edel und erwachsen. Ihr Großvater brachte ihr bei, sie zu binden. „Damit du selbstständig aufbrechen kannst“, hat er damals gesagt. Einige Jahre später ist sie aufgebrochen. Allein. Aber in den coolen Turnschuhen. Sie verknotet die beiden Schlaufen erneut, damit sie auch sicher halten, so wie ihr Großvater es ihr gezeigt hat. „Eine Zauberschleife, damit du deine Schuhe nie verlierst.“
Sie atmet tief durch, bevor sie losrennt. Auch wenn sie spät dran ist, kann sie die Zeit mit einem Sprint zur S‑Bahn wieder einholen. Die Schuhe sind ausgeblichen und ausgetreten, die Sohlen schon ganz dünn: weich und biegsam. Das stört sie nicht. So spürt sie den Boden unter ihren Füßen mit all seinen Unebenheiten. Sie achtet darauf, nicht zu stolpern über die Wurzeln, die den Asphalt in ihrer Straße aufgerissen haben, und über die Kantsteine und Schlaglöcher und all die anderen Stolperfallen.
Heute läuft sie die ganze Strecke. Eigentlich ist es nicht weit, aber ihre üblichen
Stöckelschuhe rutschen und drücken und zwängen sie Tag für Tag in die stickigen Züge. Doch ihre Turnschuhe bieten ihr Freiheit.
Wenn sie läuft, kann sie atmen. Wenn sie läuft, ist sie frei. Wenn sie läuft, kann sie ihre Gedanken entknoten. Dann erinnert sie sich, wie weit ihre Schuhe sie schon getragen haben, und weiß, dass der Weg ins Büro keine echte Hürde ist. Sie rennt so lange, bis sie merkt, dass sie nicht mehr rennen muss. Manchmal hält sie an, bei einem besonders verzwickten Gedanken. Dann bindet sie ihre Schleifen neu und knotet ihre Sorgen mit ein. In Grün wirken sie weniger bedrohlich.
Sie experimentiert gerne mit den Wegen. Inzwischen kennt sie 17 verschiedene Strecken ins Büro – hauptsächlich Umwege. Mit jedem weiteren lernt sie die Stadt ein bisschen besser kennen, kommt ein bisschen mehr hier an.
Und wenn sie das Büro erreicht hat und im Meeting sitzt, für das sie nicht gut vorbereitet ist, dann wippt sie unterm Tisch mit den bunten Schuhen, was niemand sieht, weil niemand so genau hinschaut, erst recht nicht unter den Tisch, und das beruhigt sie irgendwie: dass sie nicht auffällt. Dass niemand merkt, dass sie eigentlich nicht hierhin gehört. Sie fährt mit der Fußspitze die Rillen im grauen Teppich nach und wartet auf ihre Präsentation. Und wenn sie an der Reihe ist, steht sie sicher auf dem Boden ohne Angst, über die Worte zu stolpern. Dann verheddert sich ihre Zunge nicht. Dann lächelt sie über die Zauberschleifen und ihr Publikum lächelt auch.
Auf dem Rückweg wählt sie den längsten der 17 Wege. Sie trödelt, lässt sich von den Grübeleien der letzten Nacht einholen. Unter freiem Himmel engen sie weniger ein. Und die Bewegung hilft ihr, innerlich zur Ruhe zu kommen.
Über die Jahre ist das Leder weich geworden und hat sich an ihre Füße geschmiegt, als wären die Schuhe maßgeschneidert. Sie fühlen sich nach Zuhause an. Sie sind alles, was noch geblieben ist, von damals. Die Turnschuhe haben sie über kaputte Straßen getragen und Stacheldrahtzäune, durch Auffanglager und Behörden und durch eine fremde Stadt, deren verworrene Straßen ihr nach und nach vertraut geworden sind. So vertraut, dass sie manchmal vergisst, je woanders gelebt zu haben.
Gedankenversunken stolpert sie beinahe, als sich eine Schleife löst. Sie kniet sich nieder und fummelt an den Bändern herum. An einigen Stellen sind die Schnüre ausgefranst, werden nur noch von einem dünnen Faden zusammengehalten, nach ständigem Reiben und Zupfen und Zerren. Sie weiß nicht, wie sie nach Hause kommt, denn die S‑Bahn ist schon abgefahren.
An Tagen wie diesen hält sie auf dem Heimweg beim Schuster. Den Letzten, den es noch gibt in dieser Stadt. Er flickt aufgeplatzte Nähte, klebt Sohlen fest, tauscht die aufgeribbelten Schnürsenkel gegen neue aus. Heute wählt sie Neon-Pink. Während er arbeitet, erzählt sie ihm vom Meeting und den Grübeleien und von all den Knoten in ihrem Hirn und in ihrem Herzen. Eigentlich redet er nicht mit Kundschaft, nur bei ihr macht er eine Ausnahme. Sie verstehen sich. Sie sprechen dieselbe Sprache.
Hinterher fühlen sich ihre Schritte leichter an. Sie hüpft, so wie früher nach der Schule, und winkt ihrer Nachbarin im Vorbeihüpfen zu. Leichtfüßig tänzelt sie über die vertrauten Wurzeln und Kantsteine hinweg. Dann wird ihr bewusst, dass sie auf dem Heimweg ist.
Und wenn sie zu Hause die Zauberschleifen löst, löst sich alles auf: die Knoten an ihren Füßen und in ihrem Herzen und in ihrem Kopf. Einfach so.
Lektoriert von Michelle Markau.