PHILOSOPHIE
Fleisch & Fragmente III
Die Körperteil-Kolumne. Kapitel III: Das Knie
by CLARA BERLICH
13/07/2023
Wir sind Körper und wir haben welche. Wir trainieren und wir essen und wir berühren. Nach Maß. Ein ganzer Körper ist die Summe seiner Teile. Vielleicht mehr als das, vielleicht weniger. Ein ganzer Körper, das mag überhaupt eine Utopie sein. Körper sind sterblich. Der Anspruch des Körpers als Tempel endet typischerweise in einer Bruchbude. Man hätte seine Stimme bei der letzten Wahl vielleicht der Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung geben sollen. Vielleicht wäre das ‚body positive’ gewesen. Es munkelt dieser Tage allerdings, dass ‚body neutral’ völlig hinreichend ist. Neutral ist gut. Neutral ist nicht toxisch. Zum Beispiel: Bei Körper und Seele, da kann man auch einfach ganz neutral sein. Versuchen wir es also, mit Gefühl, und ganz neutral, und vorsichtig, so wie man die körperlichen Dinge eben angehen sollte. Wir tasten uns heran. An die Einzelteile, ganz losgelöst von Ganzheitlichkeit und guter Form.
Jetzt lesen: Fleisch & Fragmente. Die Körperteil-Kolumne. Kapitel I: Der Fuß
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“von den Nächten die hellste vor dem KaDeWe
Thomas Brasch, Was ich mir wünsche, Auszug1
die Zeitungsfrauen gehen ihren Weg der Tagesspiegel ist da
der Himmel flach und
von deinem schönen Körper das Knie”
Vor einer Besprechung des Knies hätte ich mich eigentlich gern gedrückt. Ich habe einen ungeheuren Respekt vor dem Knie. Das Knie ist mir zu lyrisch, zu pathetisch, zu extrem. Wer sich aus der knienden Position wieder erhebt, hat in der Zwischenzeit oft transzendentale Erfahrungen gemacht. Wer auf die Knie geht, verlobt sich, lässt sich zum*r Ritter*in schlagen oder spricht sich mit Gott aus. Oder tut Dinge, die eine potenzielle Verlobung rasant beschleunigen können. In jedem Fall, Thomas Brasch setzt das Knie auf seine Wunschliste, und Braschs Wunsch ist mir Befehl. Also, Vorhang auf im Körperteil-Kino für das menschliche Knie. Jenes muss ich auch wenn-dann-jetzt behandeln, weil mein Amazon-Prime-Probeabo ausläuft und ich nur noch 48 Stunden lang in den kostenlosen Genuss von Claires Knie komme. Und das ist immerhin ein Film von Éric Rohmer, und es geht 105 Minuten lang um ein Knie. Um ein nacktes, weibliches Knie, genauer gesagt.
Rohmers Film ist ein Sommerfilm, und das nackte Knie ist ein einigermaßen sommerliches Thema. Soll heißen: Claires Knie ist ein gebräuntes Knie, das unter kurzen Sommerkleidern auf einer Leiter steht, während Claire Obst vom Baum pflückt. Des Weiteren handelt Claires Knie von einem Mann, der eine Leidenschaft für das Knie der Tochter der Bekannten einer Freundin (= Claire) hegt, wie das bei Rohmer eben so vorkommt. Claire ist sehr jung, im Vergleich zum mittelalten Protagonisten, und interessiert sich nicht die Bohne für ihn. Das ändert sich erst, als der Protagonist sich mit ihr in einer einsamen Hütte verschanzt, sie zum Weinen bringt, und ihr ungefragt seine Hand aufs Knie legt.
Eine Hand auf dem Knie, das ist „als hätte ich sie besessen”, wie der Protagonist später im Film erklärt: Die Hand auf dem Knie des Mädchens ersetzt den eigentlichen Akt des Geschlechtsverkehrs. Dabei stellt sich die Frage, ob Rohmers Protagonist eine einzigartige und zufällige Form von Knie-Obsession entwickelt, oder ob die Menschheit irgendwie ein allgemeines Ding mit dem Knie hat. Thomas Brasch wünscht sich schließlich auch „von deinem schönen Körper das Knie”. Keine Augen, keine Brüste, keinen Po, nur das Knie. Warum ausgerechnet das Knie? Was hat ein Mensch (oder vielleicht: ein Mann) von einem einzigen Knie?
“Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Christian Morgenstern, Das Knie, Auszug
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.”
Ein Knie aus seinem Zusammenhang zu lösen, das ist seltsam. Schließlich handelt es sich beim Knie im Wesentlichen um ein Gelenk, eine Verbindungsstelle also, an der das Bein zusammengeknotet und beweglich und komplett wird. Einfach nur ein Knie, das wäre einfach nur ein Gelenk, ein wenig wie einfach nur eine Brücke ohne Ufer. Allerdings ist uns die metaphorische (und daher manchmal uferlose) Brücke zu einem oft und gern genutzten Stilmittel geworden – vielleicht ist das Kniegelenk ähnlich symbolträchtig?
Tatsächlich ist das Kniegelenk das größte Gelenk des menschlichen Körpers. Weiterhin handelt es sich hier um ein Getriebegelenk, und das ist „eine Sonderform eines transportablen Drehscharniergelenkes. Die Beugung setzt sich aus Abroll- und Gleitbewegung zusammen. Im gebeugten Zustand ist eine Rotation möglich.”2 Allen, denen gerade beim Lesen schlecht wird, möchte ich zwei Dinge sagen. Erstens, mir auch. Und zweitens, wenn man mit einem Hämmerchen unterhalb der Kniescheibe aufs gebeugte Bein haut, wird der Patellarsehnenreflex ausgelöst, und das Kniegelenk streckt sich ganz automatisch! Der Reflex ist bei uns eingebaut, damit wir auf unebenem Boden nicht umfallen. Bitte nicht zuhause ausprobieren, und falls doch, liegt die Betonung auf Hämmerchen.
Wir verlassen uns auf unsere Knie, wenn wir laufen, sitzen, stehen, eigentlich immer. Das Knie kommt nahezu durchgängig zum Einsatz, oft so lange, bis eine Prothese hermuss. Auf ihre Beziehung zum eigenen und allgemeinen Knie angesprochen, verziehen die meisten meiner Freund*innen das Gesicht. Die erste Assoziation sind Schmerzen, Überbelastungen, Probleme mit dem Meniskus … den ich übrigens gerade googeln muss, weil Word rot unterstreicht, und ich stelle fest, dass das ‚Meniskus’ heißt und nicht ‚Miniskus’, wie ich mein Leben lang geglaubt habe, ups, und naja … weiter im Text. Als ich klein war, so ungefähr im Grundschulalter, bin ich nachts oft weinend vor Schmerzen aufgewacht, weil mir die Knie so weh getan haben. Das waren Wachstumsschmerzen. (Gelohnt hat sich das nicht, ich bin 1,63 cm groß.) Ich bin traumatisiert im Knie-Bereich. Man soll seinen Ängsten aber irgendwie begegnen, und so sehe ich meinem Knie ins Auge. Bei längerer Betrachtung komme ich zu folgendem Schluss: Sieht ziemlich komisch aus. Schön? Ich weiß nicht, was ein schönes Knie von einem unschönen unterscheidet. In der deutschen Übersetzung von Harry Potter heißt es, Harry habe „knubbelige Knie”.3 Früher habe ich mich beim Lesen gefragt, was ein „knubbeliges” Knie sein soll. Heute denke ich, die Beschreibung trifft ganz gut auf meine Knie zu. Mir hat mal ein Mann ein Kompliment für meine Knie gemacht, in den bin ich heute noch verliebt. Leider hat das Kompliment nicht „Ich mag deine knubbeligen Knie” gelautet, das hätte ich noch schöner gefunden. Im Plural sind es übrigens tatsächlich „die Knie”, und es heißt auch „ich knie”, und das Verb lautet „knien”, ein zweites ‚e’ (knieen, Kniee, usw. usf.) kommt da überhaupt nie dran, auch wenn man es spricht. Ich will niemandem etwas unterstellen. Ich habe immerhin zwanzig Jahre lang geglaubt, dass es einen Miniskus im Knie gibt.
‚Sich wo reinknien’, das ist gefühlt das Gegenteil von ‚sich wo reinlegen’. Im ersten Fall steht Arbeit, im zweiten Fall tiefer Genuss auf dem Plan. Das kann zwar zusammenfallen, tut es aber ja so selten – „die Zoom Meetings mit meinen Kolleg*innen sind immer so lecker, da könnte ich mich reinlegen”, hmh, nee, und eher auch nicht: „Das Himbeersorbet, zum Reinknien!”. Warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil die kniende Position keine genussvolle oder besonders bequeme Position ist, aber eine nützliche. Man ist da immer noch ganz beweglich, dem Boden nahe und, im Zweifelsfall, trotzdem dem Himmel nicht fern. Der SPIEGEL zitiert eine Studie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, laut der gläubige Muslime dortzulande viel weniger Knieprobleme haben als „Ungläubige”. Die gläubigen Muslime sind nämlich vermutlich aufgrund des vielen und langwierigen Betens auf angewinkelten Knien mobiler, und das Gelenk wird besser trainiert. Leider finde ich im Internet keine Studie, die irgendetwas darüber aussagt, ob es ähnliche Unterschiede hinlänglich der Kniemobilität zwischen Katholik*innen und Protestant*innen gibt. Im katholischen Gottesdienst kniet man nämlich durchaus ab und zu. In der evangelischen Kirche knien Gläubige nur bei den wichtigen Ritualen, und dann meistens vor dem Altar, also zum Beispiel wenn man heiratet oder konfirmiert wird. Wenn man getauft oder beerdigt wird, muss man in beiden Kirchen nicht knien.
Wer gut fällt, fällt auf die Knie. Ich habe in meinem Leben verhältnismäßig wenig Sport, aber dafür viel solchen Sport gemacht, der ‚gutes Fallen’ trainiert. Knieschützer hatte ich nur beim Inlineskaten an, nicht aber beim Reiten und beim Ballett (obwohl meine Mutter die Knieschützer fürs Reiten vorgeschlagen hat). In jedem Fall: Gutes Hinfallen kann man lernen. Die erste Lektion ist meistens, dass man sich mit Handflächen und Knien abfangen, abstützen und abrollen kann. Die Position einer innig betenden Person ist also nicht weit entfernt von der Position, in der man landen sollte, wenn man stolpert oder vom Pferd fällt. Es ließe sich sagen: Die betende Person fällt freiwillig, und gefallen wird auf die Knie.
Willy Brandt fällt im Dezember 1970 vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie. Der deutsche Bundeskanzler geht vor den Opfern des Holocaust auf die Knie – ein Schuldbekenntnis? Eine Bitte um Vergebung? Die BILD titelt später: „Knien darf man nur vor Gott”, Brandts Antwort darauf, der Legende nach: „Wissen diese Leute, vor wem ich gekniet habe?” Tatsächlich findet der Kniefall oft dann statt, wenn sich die Welt von ihrer besonders gottlosen Seite zeigt. Die American-Football-Spieler Colin Kaepernick, Eli Harold und Eric Reid gehen im November 2016 im Stadion auf die Knie und machen damit auf Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen aufmerksam.
Das Knie ist nicht nur lyrisch, es ist auch politisch. In voller Länge geht Morgensterns Knie-Gedicht ja eigentlich so:
“Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Christian Morgenstern, Das Knie
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Im Kriege ward einmal ein Mann
Erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt
Als wärs ein Heiligtum
Seitdem geht’s einsam durch die Welt
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.”
Inspiriert von Morgenstern erzählt Alexander Kluge in seinem Film Die Patriotin vom Knie des Obergefreiten Wieland, das einsam durch die Welt wandert, fragt, ob es eigentlich ein Teil von einem Ganzen ist, und sich „als deutsches Knie vor allem für deutsche Geschichte” interessiert. „Wenn nichts anderes übrig ist als das, ich, das Knie, dann muss ich reden”, so das übrig gebliebene Gelenk vom Obergefreiten, und dann redet das Knie: Ein zerstückeltes Körperteil führt von zerstückeltem Bildmaterial begleitet durch die zerstückelte deutsche Geschichte.
Jenseits von Geschichte und Politik kann man etwas trotzdem auch zum Niederknien schön finden. Oder weiche Knie bekommen, weil man so verliebt ist. „Nee”, sagt meine Freundin A., „weiche Knie bekommt man, wenn man Angst hat”. „Das schließt sich ja nicht aus”, sage ich. „Hast du auch Schmetterlinge im Bauch”, fragt A., „wenn du Angst hast?” Ich denke nach, und finde schon. Vielleicht keine Schmetterlinge, sondern eher Schmeißfliegen, aber vom Prinzip her schon. Jedenfalls bekomme ich definitiv weiche Knie beim Küssen. Womit wir wieder beim Thema wären, also beim Geschlecht-Begehren-Knie-Komplex. Wir haben es bislang mit gebeugten, lyrischen, politischen, weichen, weiblichen und knubbeligen Knien zu tun gehabt – was macht die Knie nun in manchen Fällen so begehrenswert? Dass sie weich werden können? Was wiederum ja niemand sieht, wenn die Hosen lang genug sind. Rohmers Claire hatte aber eben keine langen Hosen an. Und der Refrain eines alten Schlagers geht so: „Ich hab dein Knie gesehn, das durfte nie geschehen”:
Ein sichtbares Knie ist ein heikles Knie, jedenfalls, wenn es sich um ein weibliches Knie handelt. Meine Freundin A. erzählt, dass ihre Mutter einmal zuhause Prügel bekam, weil sie sich eines schönen Sommernachmittags den langen Rock hochgebunden hatte: Die Knie waren entblößt, und das durfte nicht sein. Noch heute wird bisweilen debattiert, wie kurz ein Rock oder eine Hose sein darf, um auf der Schulbank getragen zu werden. Ich weiß noch, dass es an meiner Schule mal einen Lehrer gab, der sich von der sommerlichen Kleidung der Mädchen gestört fühlte, er konnte sich „so einfach nicht konzentrieren”, usw. usf. Debatten mit Lehrer*innen und Eltern folgten. Unfair ist, dass es vermutlich kaum große Beachtung gefunden hätte, wenn ich gesagt hätte, dass ich die kurzen Hosen vom Herrn Sowieso einfach viel zu aufreizend finde … Hach, Herr Sowiesos schnuckelige Knie und diese strammen Waden, wie soll ich mich da nur auf Mathe konzentrieren? Eine Münchnerin erklärte mir einmal, man könne ein ‚echtes’ Dirndl von der billigen oder zu modern geratenen Nachmache unterscheiden, indem man prüft, ob der Rock über die Knie reicht. Das Knie grenzt eine ordentliche, anständige Unterbekleidung von einer aufreizenden, unanständigen ab. Knielänge geht immer, oberhalb davon kann es schnell schwierig werden. Wir wissen ja alle, wo Beine enden, wenn man von unten nach oben guckt. Das Knie markiert eine Eingangspforte zum spannenden Bereich, eine Brücke zwischen dem öffentlichen und dem intimen Bereich eines Körpers.
Vielleicht ist es auch die pathetische Mystik des Knies, die es zu einem so unwiderstehlichen Körperteil macht. Jemandem am Knie berühren heißt eben, jemanden da berühren, wo hingefallen wird, oder gebetet, oder beides. Ich betrachte meine nackten Knie, nachts, auf dem Heimweg in der Tram, und ich denke, dass es ganz einfach wäre für eine der fremden Personen neben mir, die Hand draufzulegen. Auf dem linken Knie habe ich einen großen blauen Fleck und keine Ahnung, wo der herkommt. Mir gegenüber sitzt eine Frau in meinem Alter, auf jedem Knie hat sie ein kleines Kind. Das Knie ist nicht nur lyrisch und politisch, manchmal kann es auch einfach ganz gemütlich sein.
LEKTORIERT VON Jan Kabasci.
Quellen und Fußnoten
1Brasch, Thomas (2007), Was ich mir wünsche, in: Ders., Was ich mir wünsche, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S.11.
2Platzer, Werner (1999) (Hrsg.), Taschenatlas der Anatomie: Band 1 Bewegungsapparat. 7. und vollständig überarbeitete Ausgabe, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, S. 206 ff.
3Bspw. hier: „Und langsam sah Harry in die Gesichter der anderen Menschen im Spiegel und sah noch mehr grüne Augenpaare wie das seine (…), selbst einen kleinen alten Mann, der aussah, als ob er Harrys knubbelige Knie hätte – Harry sah zum ersten Mal in seinem Leben seine Familie.”; Rowling, J. K. (1998), Harry Potter und der Stein der Weisen. Übersetzt von Klaus Fritz. Carlsen Verlag, Hamburg, S. 228.
Rohmer, Éric (1970): Le Genou de Claire [Film], Frankreich: Les Films du Losange.
Kluge, Alexander (1979): Die Patriotin [Film], BRD: Kairos Film, ZDF.