On Endurance, Nahaufnahme, Gesellschaft
Infiltriert – Emotionale Abhängigkeit in romantischen Beziehungen
by LISA DAMM
24/12/2023
Wenn du wilde Beeren unbekümmert vom Boden aufliest, nicht sezierst und inspizierst, weil du nichts Verdächtiges dran siehst, ist es möglich, dass du eine parasitäre Beere genießt.
Möglich noch dazu, dass der künftig von dir bewirtete Gast selbst die Ehre häuslicher Besucher hat. Dass er sich in dir einquartiert, aus einverleibter Erfahrung nach einer Quelle seiner Nahrung schmachtend deinen Körper als neues Heim zum Keimen betrachtet.
Du bist jetzt immer ungesättigt, ständig hungrig, deine gewohnten Portionen genügen nicht. Die Hälfte verschlingt dein verwöhnter Gast mit seinem endlosen Appetit.
Unersättlich verlangt der sich zu einem Riesen gefressene Zwerg fortan die doppelte Menge. Nichtsahnend isst du für den Mitesser mit. Der Riesenzwerg ist jetzt dein dauerhafter Begleiter, du wirst von ihm geleitet, musst dich mit ihm teilen.
Der in sich gleichenden, autonomen Einzelteilen zusammengekettete Parasit wird sich weiter ausbreiten, bis er sich flexibel durch deine geheimsten Gänge schlängelt, seine Erreger deine Organe besetzen und sich an deinem Mehrwert ergötzen bis der Bewirtete deinen Wert heruntergewirtschaftet hat. Sobald die Gaststätte von vorn bis hinten, von unten bis oben verwöhnt zerwohnt ist, wird das Cockpit kontaminiert. Hartnäckige Zysten bilden sich körperweit und erzeugen ein hübsches Innenleben.
Er verzehrt, du verzeihst – vergehst – verblasst – zerfällst.
Wenn du deinen zehrend langgezerrten Bewohner erkennst und Stück für Stück seine Glieder aus-
-scheidest, ihn endlich gänzlich länglich ausgeschieden hast, bist du überfordert mit der Nahrungsauswahl, mit der Portionierung.
Nach dem vermeintlich kathartischen Gewichtsverlust kommt der therapeutische Ausweidungsfrust. Dort werden dann die Überreste, die Hinterlassenschaften deines unbestimmbaren Gasts, entfernt. Denn der hat nicht, wie es sich für einen anständigen Gast gehört, hinter sich aufgeräumt. Dieser hier war nämlich ein unanständiger Gast, der die Hausregeln nicht beachtet hat.
„Von mangelnder Regulierung und Definitionsschwierigkeiten“
Emotionale Abhängigkeit kann diverse Ausprägungen und Dimensionen annehmen. Eine solche Abhängigkeit wird in einigen Fällen durch die Ausübung psychischer Gewalt wechselwirkend begründet und verstärkt und kann in einer zermürbenden Konflikt-Spirale münden.
In deutschen Gesetzen sind Formen psychischer Gewalt noch kaum reglementiert und werden nur in Teilaspekten, wie beispielsweise Nötigung, als Gewalt anerkannt. Dementsprechend werden einige Fälle von psychischer Gewalt, insbesondere, wenn es um einschränkende Kontrolle in Partnerschaften geht, nicht ausreichend verfolgt und geahndet. Auch fehlt es laut Julia Schellong, Ärztin und Psychoanalytikerin, an einem umfangreich etablierten Netzwerk von Schulungen und der Verbreitung des Themas bei allgemeinen, institutionellen Anlaufstellen wie der Polizei, Ärzt*innen und der Justiz. Diese könnten spezialisierte Beratungsangebote an Betroffene weitervermitteln, tun das aufgrund mangelnden Wissens aber leider zu selten.1
Der Begriff der emotionalen Gewalt, hinter dem ein noch nicht eindeutig definiertes Verhaltensmuster steckt, wird von Schellong als andauernde und systematische Unterdrückung sowie mangelnde bzw. fehlende Achtung vor dem*der betroffenen Partner*in definiert – ein Verhaltensmuster, das in ausgeglicheneren Partnerschaften nicht in einem solchen Ausmaß und nur vereinzelt vorkommt.2 Weiterhin wird betont, dass psychische Gewalt im Vergleich zu physischer aufgrund der dauerhaften Nachwirkungen von einigen Betroffenen als gravierender wahrgenommen wird.3 Zu den allgemeinen Definitionsmerkmalen häuslicher Gewalt, die sowohl körperliche als auch psychische einschließt, gehören die „Verletzung der […] psychischen Integrität“4 einer Person sowie die „psychische Ausübung bzw. Androhung von Zwang und entsprechenden Verletzungen bzw. Schäden“5. Die definitorische Uneindeutigkeit psychischer Gewalt ist mitunter Grund für Schwierigkeiten bei der Identifikation und anschließender juristischer Verfolgung.
„Von Mikroangriffen zu gezieltem Gaslighting“
Die Dynamik und der Prozess einer von emotionaler Gewalt betroffenen Beziehung kann sich durch folgende Verhaltensweisen äußern: Love Bombing, Gaslighting, Double-Bind-Kommunikation, Schuldumkehr, gezielte Isolation von Bezugspersonen, Abwertung, Machtausübung sowie Zwang und Kontrolle. Verhaltensweisen, die eine Destabilisierung, emotionale Abhängigkeit und Unterdrückung der betroffenen Person zur Folge haben. Ursprünge einer solchen Dynamik konstituieren sich unter anderem durch performativ entwickelte Rollenzuschreibungen mit anschließender Rollenfixierung sowie elterliche Weitergabe von Traumata und anderen intergenerationalen Transmissionen.6
In ihrem Buch Vom Traum zum Trauma: Psychische Gewalt in Partnerschaften stellt Caroline Wenzel drei Fallbeispiele von heterosexuellen Partnerschaften vor, in denen emotionale Gewalterfahrungen gemacht werden.7 In den ausführlichen Erfahrungsberichten der Betroffenen zeigen sich wiederkehrende Muster des Verlaufs und des Prozesses solcher Beziehungen. In einigen Fällen beginnt eine von emotionaler Gewalt gekennzeichnete Beziehung mit unverhältnismäßigen Liebesbekundungen (Love-Bombing), Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien, die Fürsorge und Wertschätzung suggerieren und ein Gefühl von Bestätigung und Anerkennung auslösen. Dadurch entsteht ein anfängliches Glanzbild, das zugleich einen möglichen Zustand darstellt, zu dem sich die emotional Abhängigen in ihrer immer einseitiger werdenden Beziehungsdynamik unter jeglichen Anstrengungen zurückwünschen. So geschieht es auch in folgendem Fallbeispiel von Wenzel: Die Betroffene wird mit Charme umworben und dann nach und nach immer heftiger abgewertet, bis sie ihren Partner damit konfrontiert, woraufhin vorübergehend die anfängliche Nähe und Aufmerksamkeit zurückkehrt. Kleine, kurze Hoffnungsschimmer, die eine Sehnsucht nach diesem Gefühl auslösen, dass irgendwo als Möglichkeit im Hinterkopf festsitzt.8
Der idyllischen Anfangsphase folgen zunächst kleinere Veränderungen, wie etwa abwertende Kommentare, das Ausbleiben von Aufmerksamkeiten oder kontrollierende Nachfragen zu sozialen Kontakten. Solche Verhaltensveränderungen schleichen sich in den Beziehungsalltag ein und werden nach und nach zur Normalität. Schnell hat sich unbewusst eine Beziehungsdynamik entwickelt, in der es selbstverständlich ist, dass die betroffene Person für das Wohlbefinden des*der Partners*in und für das Gelingen der Beziehung verantwortlich ist. Wenn die ungesunde Dynamik und das unterdrückende Verhalten wahrgenommen werden, hat sich häufig bereits ein so „habitualisierte[s] Beziehungsverständnis“9 eingenistet, dass es geradezu unmöglich werden kann, sich davon zu distanzieren und Automatismen zu unterbrechen.
In Wenzels Fallbeispielen zeigt sich deutlich, dass die Schuldumkehr und Schuldzuweisung einen zentralen Mechanismus im Prozess der Abhängigkeit und Unterdrückung darstellen.10 Besonders in Situationen, in denen die gewaltausübenden Personen mit negativen Verhaltensmustern konfrontiert werden, versuchen diese durch Double-Bind-Kommunikation (doppeldeutige, widersprüchliche Äußerungen), Gaslighting (Irreführung, Manipulation der Wahrnehmung) und Bagatellisierung der eigenen Handlung den*die Partner*in zu verunsichern und als unzurechnungsfähig darzustellen. Eine faire, ausgeglichene Kommunikation ist dann nicht mehr möglich: „Immer, wenn er nicht mehr weiter wusste, waren die anderen schuld, oder es ging ihm plötzlich nicht mehr gut. Er stilisierte sich zum Opfer, und bei mir war immer wieder der Helferinstinkt angesprungen.“11 Um damit umzugehen, entwickeln Betroffene häufig Verhaltensweisen, durch die sie sich handlungsfähig fühlen, wie beispielsweise lösungsorientierte Streitkommunikation.12 Als Folge kommt es zu einer verzerrten Wahrnehmung der Situation und Verantwortungsübernahme des Scheiterns und der Probleme der Beziehung. Betroffene suchen die Schuld bei sich selbst – denn an dem eigenen Verhalten lässt sich arbeiten, während es wesentlich schwieriger bis unmöglich ist, die Wahrnehmung und Handlungen des*der gewaltvollen Partners*in zu beeinflussen.13
In einem Fallbeispiel des Buches Gewaltige Liebe von Eva Maria Lohner wird das Dilemma der Handlungsunfähigkeit, des Ohnmachtszustandes in eskalierenden Streitsituationen mit physischer Gewalt beschrieben. Die Betroffene versucht mit verschiedenen Strategien, von Lautwerden bis hin zu ruhigem Argumentieren oder Schweigen die Situation zu deeskalieren.14 Solche Kommunikationskonflikte finden sich auch in Beziehungen, die von psychischer Gewalt geprägt sind und führen zu einer Destabilisierung der Betroffenen. Als Folge entsteht ein permanentes, inkorporiertes Schuldgefühl, das beiderseits die Rollenfixierung prägt, sich in folgenden oder ähnlichen Situationen automatisch einstellt und selbst durch das Bewusstwerden über die Situation nur schwer wieder abzustellen ist.15
In einigen Fällen hat der ständige Zustand von Druck und psychischem Stress, die Isolation von Bekannten, der Familie und Freund*innen und das erniedrigte Selbstwertgefühl, neben extremen psychischen auch körperliche Auswirkungen zur Folge. Eine Betroffene in Wenzels Buch beschreibt dies folgendermaßen: „[I]ch war nicht in der Lage, […] zu erzählen, in welch fest verschlossenem Käfig aus Kontrolle, Entwertung und Ängsten ich festsaß, und wie ausweglos und beklemmend es sich anfühlte. Ich bekam Herpes, er wuchs und wuchs. Dann überfielen mich Kopfschmerzen, schneidende, vernichtende Attacken, die mir hinterrücks in die Schläfen und in die Stirn fuhren.“16 Über die Kopfschmerzen hinaus wurde die Betroffene von Panikattacken, Depressionen und Magengeschwüren geplagt.17 Eine deutliche Besserung ihres Zustands zeigte sich erst einige Jahre nach der Trennung – die ewigen Selbstzweifel, Schuldgefühle und Unsicherheiten blieben als nachhaltige Folge lange bestehen und sie musste dauerhaft in psychischer Betreuung sein, um nicht darin zu versinken.18
„Teilungsprozess: Folgen und Auswege“
Gewaltausübungen können, besonders in Partnerschaften Jugendlicher und junger Erwachsener, nachhaltige Auswirkungen auf künftige Beziehungen haben, perpetuieren darin erfahrene Geschlechterverhältnisse und bewirken potentiell die Reproduktion der vertrauten Beziehungsmuster.19 Als weitere Folge von Gewalt geprägten Beziehungen zeigt sich ein festgefahrenes Misstrauen und Bindungsängste gegenüber potentiellen neuen Beziehungen. Damit verbunden ist häufig eine Skepsis in Bezug auf die eigenen Gefühle. So fällt ein für viele relevanter und bedeutender Lebensbereich, romantische Beziehungen einzugehen, für Betroffene gänzlich weg.20 Hinzu kommen dauerhafte psychische Traumata, die in aufwendigen, möglicherweise schmerzhaften, Prozessen verarbeitet werden müssen, damit Betroffene zu einem integren Selbstwert zurückfinden können. An dieser Stelle soll hinzugefügt werden, dass die Empfänglichkeit für gewaltvolle Beziehungsdynamiken und Abhängigkeitsverhältnisse reflektiert und behandelt werden muss, um anfällige Personen vor der eigenen, unbewussten und ungesunden Partnersuche zu schützen. Das Ziel einer solchen Behandlung ist, Abhängigkeitsverhältnisse, die möglicherweise bereits vor dem Beginn einer festen Beziehung bestanden und diese überhaupt erst ermöglichten, zu durchbrechen.21
In den von Wenzel und Lohner angeführten Beispielen stellen Bezugspersonen und spezialisierte Anlaufstellen einen Ankerpunkt dar, der den Weg aus einer emotionalen Abhängigkeit unterstützen kann.22 Aber auch systematische Veränderungen gesellschaftlicher Institutionen und politischer Strukturen sowie Schulungen für Richter*innen und Hausärzt*innen werden als Stellschrauben genannt.23 Ein positiver, wenn auch nicht hinreichender Ausblick, ist die Gesetzesänderung zum Recht auf eine 15-stündige Trauma-Ambulanz, die es ab 2024 auch für Betroffene von „schwere[r] psychischer Gewalt“24 geben soll. In jedem Fall braucht es zukünftig intensivere Anstrengungen und umfangreichere Unterstützung, um einen strukturellen Wandel zu bewirken und dem Thema die nötige Präsenz zu verschaffen.
*Angebote zur Unterstützung und Beratung bei häuslicher Gewalt:
Bundesweit
Hilfetelefon Gewalt an Frauen: 116 016
Hilfetelefon Gewalt an Männern: 0800 1239900
Liste mit verschiedenen Anlaufstellen zur Hilfe bei häuslicher Gewalt
Berlin
Zentrum für Gewaltprävention
Frauenberatungsstelle
Lektoriert von Michelle Markau.
Fußnoten
1 Wenzel 2022:, S. 204.
2 Reinhold 1992: S. 211.
3 Wenzel 2022: S. 187. Zur Definition von emotionaler Gewalt und Unterschieden zu gewaltfreien Partnerschaften.
4 Lohner 2019: S. 48.
5 Lamnek 2012: S. 9.
6 Vgl., ebd. Vgl. auch Wenzel 2022: S. 191.
7 An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass Wenzel in ihrem Buch zwar ausschließlich heterosexuelle Paare als Beispiele anführt, diese Dynamiken aber auf jegliche Paarbeziehungen zutreffen können.
8 Wenzel 2022: S. 20.
9 Lohner 2019: S. 139.
10 Vgl. Wenzel 2022: S. 8.
11 Ebd., S. 57.
12 Lohner: Gewaltige Liebe, S. 174. Fallbeispiel Zofia: „Diese Übernahme der Verantwortung hat für Zofia die Funktion inne, sich handlungsmächtig und nicht ohnmächtig zu fühlen.“
13 Lohner 2019: S. 177.
14 Vgl. Ebd., S. 49 und S. 54.
15 Vgl. Ebd., S. 172.
16 Wenzel 2022: S. 39.
17 Vgl. Ebd., S. 35–40.
18 Ebd., S. 59–61.
19 Vgl. Lohner 2019: S. 69–70 und S. 159–160.
20 Ebd., S. 179
21 Ebd., S. 261.
22 Ebd., S. 269.
23 Wenzel 2022: S. 270–271.
24 Wenze 2022: S. 191.
Bibliographie
Wenzel, Caroline. Vom Traum zum Trauma: Psychische Gewalt in Partnerschaften.
Stuttgart, Hirzel Verlag, 2022.
Lohner, Eva Maria. Gewaltige Liebe. Praktiken und Handlungsorientierungen junger
Frauen in gewaltgeprägten Paarbeziehungen. Bielefeld, Transcript Verlag, 2019.
Lamnek, Siegfried et al. Tatort Familie. Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext. 3.
Auflage. Wiesbaden, Springer Verlag, 2012.
Reinhold, Gerd und Lamnek, Siegfried (Hrsg.). Soziologie-Lexikon. R. Oldenbourg: München, Wien. 1992.
Internetquellen
https://www.deutschlandfunkkultur.de/psychische-gewalt-partnerschaft-trauma-100.html