TATTOOS, LITERATURE, BERLIN
Die Dialektik der Tattoos—Brian Kellys The Cut-Ups: Tattoo Flash from the Third Mind
by HÉLOISE MARKERT
DRAWINGS/FLASH BY BRIAN KELLY

30/11/2022
Artist
Year
Country
Format
Material
Dimensions
Brian Kelly
2022
Germany, USA
Tattoo, Cut-Ups
Tinte, Papier
vary
Die nachfolgende Rezension ist ein gesponserter Beitrag. Alle hier enthaltenen Meinungen sind meine eigenen.
Rauchschwaden ziehen durch den schummrigen Raum. Von ihnen umhüllt sitzt Brian an einem alten Schreibtisch und zeichnet unbeirrt auf dem mit Kaffeeflecken übersäten Papier. Ab und an spuckt er auf die noch flüssige Tinte und blendet sie so langsam mit dem Pinsel aus. Was auf den ersten Blick wirkt wie eine mit Klischees überladene Szene beschreibt tatsächlich den Alltag des in Berlin lebenden Tattoo-Artist Brian Kelly. Sein kreatives Schaffen findet den Ursprung im Jahr 1995—mit bloß 18 Jahren frisch aus dem Gefängnis entlassen—als er das erste Mal ein Tattoostudio betritt. Wenige Jahre später beginnt er dann zu tätowieren und arbeitet in Dublin und Berlin. 2008 entwirft Brian sein erstes Tattoo Flash-Set und bringt immer neue Ideen zu Papier bis schließlich ein Buch mit den Zeichnungen der letzten Jahre entsteht: The Cut-Ups: Tattoo Flash from the Third Mind (2022, Schiffer Publishing). In The Cut-Ups bietet Brian Einblicke in die schöpferischen Techniken, die seiner Kunst zu Grunde liegen, faszinierend nicht zuletzt, weil sich sein Kunsthandwerk unter anderem der Literatur bedient.
Doch beginnen wir mit den Grundlagen. Was ist Tattoo Flash eigentlich? Flash wird gezeichnet, auf Papier oder digital, und bezeichnet fertige Designs, die im Tattoo Studio ausgewählt und dann sofort gestochen werden können. Hier zeigen sich immer mehr gewisse Parallelen zu Fast Fashion; in dem Sinne, dass viel Tattoo Flash eher auf das schnelle Geld ausgerichtet ist, als auf die Kunst. Dies kritisiert auch der Berliner Tattoo-Artist Fabian Nitz im Vorwort von Brians Buch. Doch bei Brian ist die Hingabe zum Handwerk und zum Flash ersichtlich. Er verschreibt sich tatsächlich den haltbaren und zeitlosen Tattoos.
Auch der Tattoo-Artist Mike Chambers merkt an, wie mit Instagram die Tattoo-Kunst verwaschen wird. Jemand postet einen Flash, andere entwerfen davon inspiriert ähnliche Designs und die Stile vermischen sich schrittweise. Dabei gehe auch der Fokus auf die handwerklichen und traditionellen Aspekte des Tätowierens verloren. Es sei notwendig, Flash als Rückgrat des amerikanischen Tätowierens wertzuschätzen und als Tradition zu erhalten. Chambers selbst ordnet sich einer Stilrichtung zu, welche sich American Traditional, Old-School, oder Western Traditional nennt, und sich Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte. Auch Brian lässt sich stark von diesen Motiven und Methoden inspirieren—er selbst folgt dem New Traditional Stil, der moderne Änderungen der alten Motive beinhaltet. Bezeichnend für den Stil sind die klaren schwarzen Außenlinien und die limitierte Farbpalette. Der Verstand brauche folglich nicht lange, um Motive zu erfassen. Gestochen werden diese mit den fürs Tätowieren typischen Coilmaschinen. Pioniere der amerikanischen Tattookunst seien vor allem Seemänner gewesen, eine Profession die sich auch noch heute in Stilen wie Brians niederschlägt.

So sehr sich dieses Narrativ auf Tradition und Eroberung im amerikanischen Kontext bezieht, so schließt es gleichermaßen diejenigen aus, die oft in Überlieferungen weißer Männer verloren gehen: Menschen die nicht weiß oder männlich sind. Der älteste konservierte Körper mit Tattoos, der 1991 in Italien entdeckt wurde, ist 5300 Jahre alt und in Utah, USA, wurden Tattoonadeln gefunden, die 2000 Jahre alt sind, bestehend aus Kaktusdornen. Der Tattoo Historiker Steve Gilbert erklärt, dass das Wort „Tattoo“ eine Kombination der marquesianischen und samoanischen Wörter tatau und tatu ist, die sich die Schifffahrer aneigneten. In Europa verbreitete sich bald das Bild des „tätowierten Wilden“ und viele tätowierte Menschen aus dem Globalen Süden wurden nach Europa verschifft um dort unter Gefangenschaft präsentiert zu werden. Die Sklav*innen verstarben dabei häufig durch Mord oder Krankheiten. Auch wenn sich unter den Seefahrern sicher auch neue Techniken des Tätowierens entwickelt haben, die explizit auf sie zurückzuführen sind, so ist es dennoch problematisch, in diesem Kontext nicht auch auf die Geschichte der Aneignung und Gewalt hinzuweisen.
Trotzdem erzählt der American Traditional Stil auch noch eine andere Geschichte: Die der Arbeiterklasse. Hart und tapfer, in den Shops einer dunklen Seitengasse gestochen. Viele der Motive sind von den früheren Seemanns-Tattoos beeinflusst. Diese wurden ab dem 16. Jahrhundert häufig auf Schiff mit Nadel und Schießpulver gestochen. Die Tattoos dienten als beschützende Talismane, zur Erinnerung oder als Mittel des Selbstausdrucks. Ab 1870 begannen Seefahrer in den Hafenstädten der USA und England professionelle Tattoo-Studios zu eröffnen. Beliebte Motive bei Seefahrern und somit auch im American Traditional waren Schiffe, religiöse Symbole wie Kreuze oder der Madonna, verschiedene Tiere, Dolche, Totenköpfe, patriotische Symbole, Rosen, Herzen und Pin-Ups. So ist es nicht überraschend, dass auch in Brians Tattoo-Flash viele dieser Motive vorkommen.
Das erste Aufschlagen des Buches hat in mir, um es neutral auszudrücken, viele Emotionen geweckt. Ich hatte den Eindruck, dass mir Brüste und Vulven auf jeder Seite förmlich entgegenspringen und das nicht in einer Ode an die Weiblichkeit, sondern als sexualisierte Verdinglichung. Brian selbst schreibt: „Traditional western-style tattoos are considered to be simplified expressions of basic needs and desires, or even of archetypes.” Doch Frauen als Bedürfnisse, Lustobjekte oder Archetypen zu konnotieren, liest sich ständig als Bedürfnis von Männern, Lustobjekte für Männer und Objektifizierung. Kunst reflektiert nicht nur das Leben, sondern sie erschafft und hinterfragt es auch. Und vor allem: Sie entwickelt sich fort. Der moderne Zeitgeist stellt die Frage nach der Dekonstruktion. Doch es werden nicht nur Frauen in einem Zeugnis einer brutalen Vergangenheit als dienendes Objekt redefiniert, sondern auch indigene Kulturen durch die Aneignung Weißer. Am lautesten spricht vielleicht die Abwesenheit eines Bezuges zum Kolonialismus, der sich inmitten dieser Welten platzierte. Der Kunsthistoriker Dr. Matt Lodder, der sich auch explizit in verschiedenen Arbeiten mit der Geschichte des Tätowierens beschäftigt, schreibt zum American Traditional in dem Werk Revival: Memories, Identities:
“To tattoo a tall ship on a sailor in 1920 was a reasonable, and perhaps inevitable undertaking; to tattoo such a ship on a millennial suburbanite is […] ‘almost infinitely richer’; though identical in form it is buoyed by several centuries of accumulated cultural resonance, to which the very act of repetition only adds.”1

Lodder ordnet diese Form des Tätowierens dem Revivalism zu, der sich in Kunst, Design und Architektur als ein grundlegender Aspekt des Modernismus finden lässt. Revivalism wird verstanden als eine Form der Innovation, anstatt der bloßen Konservierung. Damit gibt es einen Blick in die Gegenwart und in die Zukunft, der aufgebaut ist auf den Echos der Geschichte. Es ist eben jene Innovation und Weiterentwicklung, die Brian in seinem Werk hervorbringt. Denn so sehr mich einige Zeichnungen auf den ersten Seiten irritierten, so sehr faszinierten mich die Zeichnungen später im Buch. In meiner Vorstellungskraft formten sich Geschichten. So lässt sich ein Meerjungfrauen-Körper finden, auf dessen Schultern ein Löwenkopf thront und der von Flügeln hinfort getragen wird. Der hippe linke Studi-Mensch und die Pfarrer*innentochter in mir hat sich augenblicklich in den rauchenden Engel verliebt, der sich über ein Anarchy-Herz lehnt, und als verhipstertes Gen‑Z Kid konnte ich den Blick natürlich nicht von dem Einhorn Skelett, das aus einem Klappmesser wächst, abwenden.

All diese Motive sind Cut-Ups. Ihr Anfang lässt sich schon in den 1920ern verzeichnen. Der Dadaist Tristan Tzara nahm an einer Versammlung teil und begann ein Gedicht spontan zu kreieren, indem er zufällig verschiedene Wörter aus dem Hut zog. Im selben Jahr verfasste er den Text To Make a Dadaist Poem, der auch in Auszügen auf den ersten Seiten von Brians Werk auftaucht.
Take a newspaper.
Take some scissors.
Choose from this paper an article the length you want to make your poem.
Cut out the article.
Next carefully cut out each of the words that make up this article and put them all in a bag.
Shake gently.
Next take out each cutting one after the other.
Copy conscientiously in the order in which they left the bag.
The poem will resemble you.
And there you are—an infinitely original author of charming sensibility, even though unappreciated by the vulgar herd.
Tristan Tzara, 1920, To Make a Dadaist Poem2
Cut-Ups entstehen, indem ein oder mehrere fertige und lineare Texte zerschnitten werden und dann nach dem Prinzip des Zufalls zu einem neuen Text zusammengefügt werden. Nach Tristan Tzara geriet die Technik in Vergessenheit, bis der Maler und Schriftsteller Brion Gysin 1959 Cut-Ups, ganz in deren Stil, zufällig wiederentdeckte. Er schnitt einen Rahmen für Grafiken auf seinem Arbeitsplatz zurecht. Dafür nutzte er verschiedene Zeitungsseiten als Unterlage. Beim Schneiden wurden auch diese unterteilt und zerfielen zu Streifen. Er nahm diese und klebte aus ihnen einen neuen Text zusammen. Teils bildeten sie spaßiges Chaos, teils gaben sie Raum für bisher ungedachte Ideen. Gysin hatte schon vorher mit seinem Freund, dem Schriftsteller William S. Burroughs, darüber gesprochen, wie Literatur gegenüber der Malerei einen Rückstand von 50 Jahren aufzuholen habe, der dem Aufkommen der Collage zu verschulden sei. Gysin und Burroughs waren der Ansicht, dass die Cut-Ups das Äquivalent zur Collage in der Literatur bildeten. Diese Gedichte und späteren Cut-Up Romane stellten eine neue Entwicklung in der Literatur der Moderne dar, welche dem Vormarsch der modernen Kunst folgte.

All die zuvor beschriebenen Flash-Tattoos von Brian enthalten verschiedene Bilder, verschiedene Elemente, die wirken, als ob sie zufällig zusammengesetzt worden wären. Die Meerjungfrau mit Löwenkopf und Vogelflügen. Cut-Up. Engel, Rauchen, Anarchy. Cut-up. Und so weiter. Dabei nutzt Brian im Zuge des New Traditional Stils sowohl traditionelle Elemente des American Traditional, als auch neue und moderne Bilder. Doch warum griff Brian für seinen Tattoo-Flash auf eine Literaturtechnik zurück, wenn er auch einfach bei der Kunsttechnik der Collage hätte verweilen können? Bei mir persönlich wäre der Grund, dass ich mich einfach mehr zur Sprache hingezogen fühle und es nur ein paar bedeutungsschwangere, mysteriöse Worte braucht, um mich von einer Sache gefangen zu nehmen. Wie die aleatorischen Cut-Ups. Burroughs meinte auch einmal, dass Cut-Ups als eine Form der Weissagung betrachtet werden können: “When you cut into the present the future leaks out.” Ob es nun die Worte selbst oder die Gedanken dahinter waren—Brian scheint von den Ideen von Burroughs und Gysin bewegt worden zu sein. Denn The Third Mind (1977) ist ein beinahe gleichnamiges Buch der beiden Literaren, das eine Kombination von Essays und Poesie enthält, die mit Hilfe der Cut-Up Technik entstanden sind. Es ist genau dieses Kreieren zuvor ungedachter Ideen, das das Third-Mind für sie darstellt. Für Brian könnte dies auch die Leere, das Unterbewusste oder vielleicht sogar Gott sein. Wenn man sich sowohl die Leben von Burroughs und Gysin anschaut als auch ihren Worten lauscht, wirkt es nicht unwahrscheinlich, dass für sie Cut-Ups tiefere Wahrheiten enthielten. Sie waren bekannt für ihre Verbindungen zu halluzinogenen Drogen und das Bedürfnis nach dem Überschreiten metaphysischer Grenzen. Auch Cut-Ups können an einen Drogentrip erinnern, mit ihren zufälligen, flackernden Bildern, den gleichzeitigen Handlungssträngen und Entwicklungen wider jeder Logik. Burroughs vermerkt, wie sie unser Vorstellungsvermögen erweitern können.3 Mittlerweile wissen wir von der Neuroplastizität unserer Gehirne, wie sie lernen und sich verändern können. Immer mehr häufen sich Studien dazu, wie auch Drogen diese beeinflussen. So unwahrscheinlich erscheint es mir nicht, dass auch Cut-Ups ähnliche Effekte haben können. Ich denke, Brian hat seine Flash-Tattoos nicht einfach Collagen genannt, da er genau diese Bedeutungsebene mitschwingen lassen wollte. Die Gedanken von Burroughs und Gysin, das Halluzinogene, die tiefere Wahrheit.
Es gibt viele Motive von Brian, die ich mir nicht stechen lassen würde, sei es zum einen wegen der bereits beschriebenen problematischen Aspekte oder einfach weil sie nicht meiner Ästhetik entsprechen. Ich glaube, ich könnte diese Assoziation nicht mehr abschütteln. Doch einige von Brians Tattoos faszinieren mich. Es sind die wilden Zusammenstellungen, eine neue Ästhetik. Es sind Zeichnungen, die Poesie sind. Sie eröffnen neue Ebenen und ermöglichen es mir, meiner Liebe zu Worten und Gedanken eine neue Form zu geben.
Brian Kelly ist ein amerikanischer Tattoo-Artist, der mittlerweile in Berlin lebt. Er arbeitet im Red Chapel Tattoo in Friedrichshain, dort erhält man nur Zugang über vorherige Terminvereinbarungen. The Cut-Ups: Tattoo Flash from the Third Mind kann online oder in den meisten Buchläden bestellt werden. Mehr Informationen gibt es auf Brians Website unter www.briankellyarmy.com oder auf Instagram: @briankellyarmy.
EDITED BY LARA HELENA.
Quellen
Kelly, Brian. The Cut-Ups: Tattoo Flash from the Third Mind. Schiffer Publishing, Atglen, PA 2022
1 Lodder, Matt. “The New Old Style: Tradition, Archetype and Rhetoric in Contemporary Western Tattooing”. Revival: Memories, Identities, Utopias. Courtauld Books Online, London 2015, S. 114
2 Pericles Lewis, The Cambridge Introduction to Modernism. Cambridge University Press, Cambridge 2007, S. 107
3 Miles, Barry. Call me Burroughs, A Life. Kellner Verlag, Hamburg 1994, S. 147ff