Dieser Artikel setzt sich mit dem sogenannten Werther-Effekt und dementsprechend mit der Darstellung von Suizid in den Medien auseinander. Für Menschen, die sich in Krisen befinden, könnte das triggernd wirken. Solltest du verzweifelt sein oder Hilfe brauchen, nimm bitte Kontakt mit der Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de, Hotline: 0800–1110111 oder 0800–1110222) auf. Dort bekommst du professionelle Hilfe von Berater*innen, die dir Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.
von Ina Raterink
Einfach zusammengefasst beschreibt der Werther-Effekt Folgendes: Die Suizidrate in der Bevölkerung steigt an, sobald spektakulär über das Thema Suizid berichtet wird. Dies geschieht nachgewiesenermaßen etwa, wenn sich eine prominente Person das Leben genommen hat. Je mehr Details genannt werden, desto mehr verstärkt sich der Effekt.
Ohne Frage ist die Thematisierung von Suizid in der Öffentlichkeit unbedingt notwendig. In Deutschland nehmen sich jedes Jahr rund 10.000 Menschen das Leben, mehr als bei tödlichen Unfällen. Bei jungen Menschen ist der Suizid die zweithäufigste Todesursache, und trotzdem werden wenige sinnvolle öffentliche Debatten geführt. Im Journalismus gibt es für den Umgang mit Suizid den Pressekodex, der besagt: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Außerdem hat das Nationale Suizidpräventionsprogramm Deutschland eine ausführliche Checkliste für die Berichterstattung über Suizide erarbeitet.
Doch trotz des Wissens um die Folgen einer unsensiblen und reißerischen Berichterstattung wird dies manchmal außer Acht gelassen. Das Presseecho des Suizids vom Nationaltorwart Robert Enke führte zu einem signifikanten Anstieg von Selbsttötungen nach demselben Muster. Die Presse hatte zuvor ihren Kodex weitestgehend vergessen und quasi alle Informationen rund um den Suizid preisgegeben. Sogar die Vorgehensweise und der genaue Ort des Geschehens wurden genannt, obwohl der Effekt der Nachahmung bekannt ist. Es kam im Nachhinein immerhin auch zu einer öffentlichen Diskussion über seine Erkrankung, der Depression. Direkt nach seinem Tod wurde er jedoch vor allem heroisiert – in seiner Person und auch in seiner Krankheit. Als 40.000 Menschen in seinem Heimatstadion Abschied von ihm nahmen, übertrugen fünf Fernsehsender – das Medienecho war gewaltig. Die Bild verglich seinen Sarg mit dem von Johannes Paul II und schuf so das Bild eines Heiligen. Anfang November dieses Jahres veröffentlichte die Bild eine Art „Special“ mit dem reißerischen Titel: Die letzten 50 Stunden von Robert Enke und erneuert so die Erinnerung an den heiligen Torwart. Insgesamt war die Sprache in den Medien stark emotionalisiert, detailliert, spektakulär und somit nicht wie sie laut Pressekodex sein sollte. Wie viele Menschen sich daraufhin das Leben nahmen, steht nicht ganz fest. Die Anzahl ähnlicher Suizide nahm allerdings in den ersten zwei Wochen um 138 Prozent zu. Sogar zwei Jahre danach war noch ein Anstieg von 19 Prozent zu vermerken.
Die Leiden des jungen Werther
Goethe erreichte mit seinem Roman bereits im Erscheinungsjahr 1774 Kultstatus und sorgte für brisante öffentliche Diskussionen. Der Hauptprotagonist Werther, dessen Liebe zu seiner angebeteten Lotte unerfüllbar bleibt, verfällt in eine tiefe emotionale Krise und sieht als einzigen Ausweg die Selbsttötung. Vor allem für junge Leser*innen barg diese Figur großes Potential für eine emotionale Identifikation. Werther stellte neben der Rolle des unglücklich Verliebten das Vorbild für eine Emanzipation gegen bestehende gesellschaftliche Normen dar – so dachte jedenfalls Goethe und stattete seinen Roman mit folgendem Vorwort aus:
„… Ihr könnt seinem Geiste und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen. Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und lass das Büchlein deinen Freund sein …“
Den Appell zur Nachahmung, der in diesen Worten unschwer zu erkennen ist, bestritt Goethe zunächst, bearbeitete diesen jedoch später und fügte hinzu: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“ Die Figur Werther stellte im damaligen Kontext eine Art tragischen Anti-Helden dar, der bereit war, mit bestehenden Werten zu brechen, denn nicht mal vor dem Suizid machte er Halt. Dieser war in der vom katholischen Glauben geprägten Gesellschaft als Todsünde verdammt. Die Leichen von Personen, die sich das Leben genommen hatten, wurden nur durch die Hintertür oder den Keller aus dem Haus gebracht und durften nicht auf heiligem Boden beerdigt werden. Erst 1983 hat die katholische Kirche diese Regel gestrichen.
Somit war Werther eine Art Revolutionär, der sich heldenhaft gegen die strengen Regeln der katholischen Kirche auflehnte. Doch die Frage, die sich im Zusammenhang mit Werther zum ersten Mal stellte, stellt sich auch noch heute: Inwiefern führt die mediale Darstellung von Suiziden zur Nachahmung?
Im „Werther-Fieber“ wurde in den Jahren nach Erscheinung des Romans mehrfach von Selbsttötungen berichtet, die in einem direkten Zusammenhang mit der Hauptfigur oder der Heroisierung dieser standen. Äußerliche Ähnlichkeiten, wie die gleiche Kleidung oder das Mitführen des Buches, ließen darauf schließen. Erklärungsansätze für das Phänomen des Werther-Effekts kommen vor allem aus der Psychologie. Die Theorie des Modelllernens von Albert Bandura gilt weitestgehend als anerkannte Begründung. Diese besagt, dass sich Menschen Verhaltensweisen von Personen aneignen, mit denen sie sich identifizieren können.
Erstmalig untersuchte der Soziologe David Philipps im Jahre 1974 die Auswirkungen medialer Inszenierung von Suiziden. Er konnte nachweisen, dass mit jeder spektakulären Berichterstattung des Suizids einer berühmten Person auch die Selbsttötungsraten in der Bevölkerung anstiegen.
Darauf folgten etliche Studien, die ähnliche Effekte nachweisen konnten. So wurde bewiesen, dass auch schon Zeitungsberichte über Suizide nichtprominenter Personen zu einem Anstieg der Selbsttötungsraten führten. Außerdem kam es in Deutschland nach der Ausstrahlung des Films Tod eines Schülers, also einer fiktiven Darstellung eines Suizids, unter den 15- bis 19-jährigen zu einer Zunahme der Suizid-Rate um 175 Prozent.
Eine aktuelle Debatte dreht sich um die Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht, die Ende 2017 veröffentlicht wurde. Schon damals warnten Psychologen vor den Folgen, denn diese Serie thematisiert den Suizid einer Schülerin. Jetzt haben Forscher im Zusammenhang mit dieser Serie einen Werther-Effekt festgestellt. Bevor ich weiter ins Detail gehe, folgt ein kurzer Exkurs über eine persönliche Erfahrung mit dem Buch zur Serie.
Die Figur Werther stellte im damaligen Kontext eine Art tragischen Anti-Helden dar, der bereit war, mit bestehenden Werten zu brechen, denn nicht mal vor dem Suizid machte er Halt. Dieser war in der vom katholischen Glauben geprägten Gesellschaft als Todsünde verdammt.
Tote Mädchen lügen nicht und Identifikation
Wir haben 2014. Sophia und ich verbringen einen grauen Herbsttag in der Kinder- und Jugendabteilung einer öffentlichen Bibliothek. Sie ist 13 und hat Schwierigkeiten beim Lesen – deswegen sitzen wir hier. Sie liest mir aus einem Buch ihrer Wahl vor: Tote Mädchen lügen nicht. Sie liebt dieses Buch. Sie identifiziert sich mit der Hauptprotagonistin Hannah Baker. Hannah scheint anfangs mit Problemen zu kämpfen, die viele Jugendliche haben, und doch gibt es einen Unterschied. Es ist klar, dass Hannah sich das Leben genommen hat. Die Erklärung kommt nach und nach von Hannah selbst, denn sie hat vor ihrem Tod 13 Kassetten aufgenommen. Aus ihrer Sicht sind 13 Personen für ihren Tod verantwortlich. 13 Reasons Why ist der englische Titel dieses so umstrittenen Romans. Es ist ohne Frage eine unglaublich mitreißende, spannende Geschichte voller katastrophaler Entwicklungen. Diese reichen von Voyeurismus über Mobbing bis hin zur Vergewaltigung. Nach und nach wird aus einer normal erscheinenden Jugend im amerikanischen Mittelstand eine lebensbedrohliche Krise, die niemanden sonderlich zu interessieren scheint.
Ich sitze mit Sophia in der Bibliothek und möchte alles über die Hauptprotagonistin erfahren. Der Spannungsbogen fühlt sich zwischendurch so an, als wäre ich eine Schaulustige bei einem Unfall. Sophia liest mir eine Schreckensnachricht nach der anderen vor, manchmal mit vor Spannung bebender Stimme und manchmal mit einem zittrigen Kloß im Hals. Sie findet sich selbst viel zu oft in diesem Buch wieder und zieht Vergleiche da, wo keine Vergleiche gezogen werden sollten. Wir reden nach jeder gemeinsamen Lesezeit viel über Hannahs Geschichte und in dem Zusammenhang auch über Sophias Gefühle, die Pubertät und all die schwierigen Umstände, in denen sie lebt.
Der Hannah Baker-Effekt
Bereits einen Monat nach Veröffentlichung der Serie zum Buch stieg laut Forschern des Ohio State University College of Medicine die Suizidrate in den USA um 28,9 Prozent. Bis zum Ende des Jahres 2017 nahmen sich 195 mehr Menschen als prognostiziert das Leben. Vor allem 10- bis 17-Jährige waren betroffen. Thomas Niederkrotenthaler von der Medizinischen Universität Wien leitete eine eigene Studie zum Thema und kam im Mai dieses Jahres zum gleichen Ergebnis. Auch die Anzahl von Jugendlichen, die nach selbstverletzendem Verhalten in Notaufnahmen registriert wurden, stieg an – es gab demnach auch häufigere Suizidversuche. Die Zahlen seien laut Niederkrotenthaler nur die Spitze des Eisbergs. Besonders problematisch sei vor allem, dass alle Probleme der Jugendlichen mit dem Suizid verknüpft werden und die Suche nach Hilfe als sinnlos dargestellt werde.
Hannah und Sophia
Sophia hat die Pubertät überstanden und ist inzwischen erwachsen. Die Frage, die sich mir seitdem dennoch immer wieder stellt: Hätte Sophia die Lektüre dieses Buches alleine meistern können? Ohne Reflexion, ohne Gespräche, ohne Richtigstellung der Tatsachen, ohne Entschärfung ihres eigenen Dramas?
Das Ziel, sie zum Lesen zu bewegen, habe ich mit diesem Buch definitiv erreicht. Doch legte der riesige Berg ihrer pubertären Verzweiflung nach dieser ursprünglich harmlosen Leseübung deutlich an Umfang zu. Damit will ich nicht sagen, dass diese Geschichte der Ursprung ihrer Probleme war.
Sophia hatte damals kein einfaches Leben und nicht so gute Voraussetzungen, wie sie Hannah Baker im Buch oder auch in der Serie hat. Eigentlich gibt es wenige Parallelen zwischen den beiden. Doch die Story schafft es, Hannah als eine Art Heldin darzustellen, die auch nach ihrem Tod allgegenwärtig ist und ihre zu Lebzeiten benötigte Anerkennung bekommt. Sophia verglich alles mit sich selbst, denn es gab viele Emotionen, die auch sie kannte, die wahrscheinlich viele in ihrem Alter kennen. Es ist das Dilemma der Identitätskrise.
Hannah erreicht mit ihren Kassetten vor allem eines: Rache. Die ganze Geschichte wirkt wie eine kindlich-hilflose, fast trotzige, Reaktion auf all die Ungerechtigkeiten, die einem im Leben widerfahren. Es ist eine Art posthumer Rachefeldzug, der alle in ihrem Umfeld bestraft. Über das Leid, das im Umfeld keiner im vollen Ausmaß erkennen will, und das Bedürfnis der Anerkennung der eigenen Person definiert sich auch Sophias Identifikation mit Hannah.
Ich sitze mit Sophia in der Bibliothek und möchte alles über die Hauptprotagonistin erfahren. Der Spannungsbogen fühlt sich zwischendurch so an, als wäre ich eine Schaulustige bei einem Unfall.
Dem Autor Nic Sheff, der Episode 6 der Serie verfasste, ging es darum, das Thema offen und direkt zu behandeln, um den Suizid als qualvollen Horror darzustellen.
Das gelang mit der Darstellung des Suizids in der Serie nicht. Dieser wird in einem äußerst problematischen Ausmaß sehr detailliert und fast schon ästhetisch porträtiert. Am Ende wirkt es so, als hätte Hannah endlich ihren Frieden gefunden. Es ist keine Tragödie, sondern eine Erlösung, auf die alles hinausläuft, denn Hilfe gibt es für Hannah keine. Dabei redet sie nicht mal mit ihren Eltern, obwohl sie ein sehr fürsorgliches familiäres Umfeld hat. Sie sucht sich lediglich Hilfe bei einem Schulpsychologen, der leider komplett falsch reagiert. Somit stellt die ganze Geschichte eines fest: Es gibt keine Hilfsangebote, und Suizid ist die einzige (Er)Lösung, auf die alles hinausläuft.
Für Sophia war diese Lektüre definitiv ein Trigger, der ihre Sicht auf die Welt nicht positiver werden ließ. Im Gegenteil. Suizid war plötzlich ein Thema, über das sie nachdachte. Man könnte meinen, das wäre gut: immerhin spricht sie so endlich darüber. Aber was wäre, wenn sie ohne dieses Buch niemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte? Was wäre, wenn sie niemals darüber hätte sprechen müssen, weil erst diese Story ihr diese Art der Problemlösung aufgezeigt hat? Hätte sie sich ohnehin selbst verletzt oder war das Buch der Auslöser?
Werther vs. Papageno
Die Serie hat erwiesenermaßen negative Auswirkungen auf die Zuschauer*innen. Zwar greift sie auch wichtige Themen auf, wie Mobbing und Slutshaming. Indem jedoch alles auf den Suizid hinausläuft, bietet die Serie keinerlei Lösungsansätze.
Es gibt Studien, die beweisen, dass ein sensibler Umgang mit der Thematik sogar zu einer Verringerung der Suizidrate führen kann. Als ein repräsentatives Beispiel gilt der Rückgang der Suizide bei der Wiener U‑Bahn, nachdem suizidpräventive Maßnahmen ergriffen wurden.
Wichtig ist es, Geschichten zu erzählen, die zeigen, wie Menschen suizidale Krisen erfolgreich meistern. Es soll dabei nicht um eine Verherrlichung der Krise gehen, sondern um die Möglichkeiten, die noch bleiben. Hier kommt wieder Thomas Niederkrotenthaler mit dem sogenannten Papageno-Effekt ins Spiel. Er untersuchte die öffentliche Darstellung bewältigter suizidaler Krisen und konnte im Zuge dessen einen Rückgang der Suizidraten feststellen. Als Vorlage für den Namen dieses Effekts dient eine Szene aus Mozarts Zauberflöte, in der Papageno von Freunden von seinem Suizid abgehalten wird: Eine der ersten erfolgreichen Suizidpräventionen unserer Kulturgeschichte.
Inzwischen sollten alle Medienmacher*innen über die Ausmaße des Werther-Effekts Bescheid wissen und verantwortungsvoll mit Inhalten umgehen. Das gilt nicht nur für die Presse, die immer wieder durch reißerische Berichterstattung à la Enke auffällt, sondern auch für Produzenten fiktiver Charaktere.
Eine lösungsorientierte Auseinandersetzung mit der Thematik im öffentlichen Diskurs ist unbedingt notwendig. 10.000 Menschen, die jedes Jahr keinen anderen Ausweg sehen, sind zu viele. Wie viele tatsächlich vom Werther-Effekt beeinflusst wurden oder unnötigerweise hinzukommen, ist nicht nachweisbar. Wir wissen nur, dass es diesen Effekt gibt, und wir wissen auch, dass durch den richtigen Umgang faktisch Leben gerettet werden können. Warum also nicht einfach mal die Unfall-Gaffer-Mentalität hinter uns lassen und stattdessen eine mediale Rettungsgasse bilden?
Bildquellen:
Gedenken An Robert Enke von Gerold Beddingham via flickr.
Werther und Lotte mit ihren Geschwistern von Johann Daniel Donat.
Renato Mu via pexels.com
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