von Martin Bäckert
Zur Station laufen. Warten. Einsteigen und Platz suchen. Warten. Aufstehen und Aussteigen. Zum Ziel laufen. Protokoll aus dem Alltag einer jeden Bahnfahrt. Viele Menschen — mich inbegriffen — nutzen tagtäglich den öffentlichen Nahverkehr, um von A nach B zu kommen. Der oben beschriebene Ablauf ist dabei fester Bestandteil unseres Nahverkehr-Alltags — wir nutzen die Bahn routiniert. Oder wann hast du dich das letzte Mal gefragt, wie du aus deiner S‑Bahn aussteigen sollst? Doch was passiert eigentlich, wenn wir genau diesen Nahverkehr-Alltag dekonstruieren und unseren Blick den kleinen und großen Abläufen des Bahnfahrens zuwenden? Es öffnet sich eine eigene Welt: der Mikrokosmos des Bahnfahrens. Ihn zu untersuchen war ein Bestandteil meines Ethnologie-Studiums, ihn euch vorzustellen ist das Ziel meines Artikels.
Auf den ersten Blick zeigen sich bei einer Bahnfahrt neben dem Ein- und Aussteigen vor allem individuelle Verhaltensweisen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Es wird am Smartphone getippt, geredet, gelesen, gegessen oder auch geschlafen. Vielleicht liest du ja diesen Artikel, während du gerade mit einer S- oder U‑Bahn unterwegs bist. Die individuellen Verhaltensweisen sind dabei routiniert. Jeder Fahrgast hat scheinbar seine eigene Fahrpraxis, der er nach dem Betreten der Bahn nachgeht. Der kleinste gemeinsame Nenner im Nahverkehrsalltag ist dabei der Wunsch nach der schnellstmöglichen Ankunft am Ziel. War es das also schon? Ist Bahnfahren demnach eine individuelle Praxis? Ein Rückblick in die Geschichte des Nahverkehrs liefert hierzu erste Antworten.
Erste Pläne der Berliner Ringbahn um 1885.
Setzen wir uns mit der Geschichte des Bahnfahrens auseinander, zeigt sich relativ schnell, dass es sich hierbei um ein relativ junges Phänomen handelt. Im Zeichen der Industrialisierung begann ab circa 1850 die Vernetzung weitläufiger Gebiete per Eisenbahn. Da parallel dazu auch noch die Bevölkerungszahlen in Metropolen — wie zum Beispiel New York oder Berlin — massiv anstiegen, entstand dort eine große Nachfrage nach öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Stadtplaner und Bauunternehmen reagierten. In New York wurde 1904 der erste Streckenabschnitt einer groß angelegten Stadtbahn eingeweiht–in Berlin rund zwanzig Jahre später. Seit ungefähr 100 Jahren fahren Menschen in Großstädten also mit der Bahn. 100 Jahre, in denen sich Routinen oder gar Alltag erst entwickeln mussten, denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts war weder den Fahrgästen noch den Betreibern der Bahnen klar, wie man am besten das neue Verkehrsmittel nutzen sollte. Der Beliebtheit der neuen Verkehrsmittel tat dies jedoch keinen Abbruch. Allein in New York wollten bereits am Eröffnungstag eine Million Menschen die frisch gebaute U‑Bahn nutzen. Ein derartiger Ansturm war in den Plänen des verantwortlichen Unternehmens IRT nicht vorgesehen. Von Beginn an stand daher für Politik und Bahnunternehmen vor allem ein Ziel ganz oben auf der Agenda: Sie wollten den Betriebsablauf der noch jungen Stadtbahnen um jeden Preis effizienter gestalten. Doch die Verantwortlichen stießen dabei auf ein zentrales Problem. Die Fahrgäste nutzten den Nahverkehr nicht effizient genug. Immer wieder trafen so theoretische Pläne auf die schonungslose Realität des Alltages. So wollte beispielsweise der amerikanische Ingenieur Bion J. Arnold die New Yorker Bevölkerung mit Schildern dazu bringen, an verschiedenen Türen in die U‑Bahn jeweils nur ein- oder auszusteigen. Jeder, der schon einmal in der Rushhour den öffentlichen Nahverkehr nutzte, weiß, dass diese Idee nur scheitern konnte.

Zeichnung der erwünschten Passagierkapazität in den ab 1915 eingesetzten Standardwaggons der New Yorker U‑Bahn.
Doch die verantwortlichen Politiker und Ingenieure ließen sich durch einzelne Rückschläge nicht von ihrem Ziel abbringen und versuchten im Laufe des 20. Jahrhunderts unbeirrt, den Betriebsablauf immer weiter zu optimieren. Im Sinne einer Effizienzsteigerung sollten die individuellen Verhaltensweisen der Fahrgäste in eine kollektive und damit kontrollierbare Bahnfahrpraxis transformiert werden. Ein möglichst effizienter Betrieb der Bahnen wurde so über individuelle Bedürfnisse gestellt. Aus einzelnen Menschen, die mit der Bahn fahren, sollte eine normierte Gemeinschaft an Fahrgästen geschaffen werden, die sich an zuvor aufgestellte Regeln halten sollte. Dazu errichtete man zum Beispiel Schranken an den Gleisen, brachte Schilder an und strukturierte die Größe und Ausstattung der Waggons. Zentrale Grundlage dieser Pläne waren dabei Daten und Zahlen über jeden einzelnen Schritt des Betriebsablaufes, welche durch professionalisierte Ingenieure erhoben wurden. Die Arbeitsberichte des Ingenieurs Bion J. Arnold zeigen in beeindruckender Weise, wie jeder noch so kleine Prozess und Raum der U‑Bahnen im Zeichen einer Optimierung ausgemessen wurde. In den Sozialwissenschaften werden solche Herangehensweisen als Top-Down-Prozesse oder Subjektivierung beschrieben. Doch was ist heute von diesen Versuchen übrig geblieben? Sind wir, wenn wir Bahn fahren, Teil einer normierten Gemeinschaft?
Oberbaumbrücke Berlin. © Sarah Jane at Flickr, Oberbaumbrücke mit U‑Bahn, CC BY 2.0.
Wie bereits eingangs erwähnt, wirkt das Bahnfahren heutzutage auf den ersten Blick wie eine Ansammlung individueller Verhaltensweisen. Als ich im Zuge meines Ethnologie-Studiums jedoch mehrere Wochen lang die eine Stunde Fahrtweg zur Arbeit für bewusste Beobachtungen des Nahverkehrsalltags nutzte, änderte sich dieses Bild. Gerade bei der Art und Weise, wie wir uns hinsetzen, wann wir reden oder doch lieber auf unser Handy schauen, wie wir interagieren, zeigen sich große Gemeinsamkeiten. Viele Passagiere suchen beispielsweise bei der Platzwahl eine möglichst große räumliche Distanz. Direktes Nebeneinandersitzen wird als unangenehm empfunden. Diese Beobachtungen lassen sich in Interviews wiederfinden, die wir in der Berliner Ring-Bahn führten. Dort sprachen Fahrgäste offen davon, dass sie bewusst möglichst viel Distanz zu anderen Fahrgästen aufbauen und sich auch schon mal umsetzen, wenn es ihnen zu eng wird. Auch wenn dies nur ein Bruchteil des Mikrokosmos Bahnfahren ist, zeigt sich hier, wie sich individuelle Verhaltensweisen und normierte Routinen vermischen. Jeder Mensch hat zunächst ein eigenes Empfinden für räumliche Nähe und Distanz und entscheidet für sich selbst, in welchem Verhältnis diese bei seiner Bahnfahrt stehen sollten. Die Raum- und Sitzplatzverteilung der S‑Bahnen kann er jedoch nicht bestimmen. Die ist genauso vorgegeben wie etwa der Aufbau der Stationen und die Nutzungsregeln der Deutschen Bahn. Auch heute noch gibt es also Versuche, den Betriebsablauf der Bahnen zu regeln und zu normieren. Dabei zeigen sich internationale Unterschiede. Während es in Deutschland normal ist, prinzipiell auch ohne Ticket in die Bahn zu gelangen, wird in anderen Ländern die Gültigkeit der Tickets bereits an Schranken vor dem Fahrtantritt kontrolliert. Frei nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Doch auch lokal können unterschiedliche Routinen und Vorgaben beobachtet werden. So ist beispielsweise das „Alkohol verboten“ Schild und das sich daran Halten ein Teil des Bahnfahrens, der sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Jeder, der am Wochenende schon einmal im Berliner Nahverkehr unterwegs war, weiß, dass dieses Schild nur ironisch gemeint sein kann.
Unsere Reise durch den Mikrokosmos Bahnfahren endet an dieser Stelle. Dennoch lässt sich abschließend festhalten, dass unser Alltag mehr ist, als von A nach B zu kommen, zu essen, zu trinken, zu arbeiten oder Freunde zu treffen. Wenn wir damit anfangen, ihn zu beobachten und unsere Perspektive zu wechseln, eröffnen sich uns spannende Welten voll mit Routinen, Strukturen und Normen. Das Fach Ethnologie und andere Sozialwissenschaften helfen uns mit ihren Konzepten und Theorien dabei, diese kleinen Momente aus dem Rauschen des Alltags herauszunehmen und kritisch zu hinterfragen. Im Fall des Bahnfahrens kann so eine Ansammlung und Überlagerung von historisch gewachsenen, bewusst normierten und individuellen Praktiken beobachtet werden. Die Art und Weise wie wir Bahnfahren ist daher eine Mischung aus routiniertem Alltag und bewussten Entscheidungen, deren Vielfalt die kleine — große Welt des Nahverkehrs eröffnet. Durch diesen Artikel wollte ich euch einen kleinen Einblick in diese Welt geben, deren Diversität noch Platz für viele weitere Beobachtungen bereithält.
Literaturempfehlungen:
Stefan Höhne, New York City Subway. Die Erfindung des urbanen Passagiers, Köln / Weimar / Wien 2017.
Thomas Etzemüller, Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009.
Bildquellen:
- Titelbild: Kevin Harber at flickr, New York Subway Car, CC BY-NC-ND 2.0.
- Oberbaumbrücke: Sarah Jane at Flickr, Oberbaumbrücke mit U‑Bahn, CC BY 2.0.
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