Weshalb die einzige Essenz, die wir teilen, die Vielfalt ist. Von demokratischer Gleichheit und brillanter Diversität.
von Mercy Ferrars
“Die menschliche Natur ist potenziell aggressiv und destruktiv und potenziell geordnet und konstruktiv.”
Margaret Mead, Kulturanthropologin (1901–1978)
Im Angesicht des Moments, den der Kampf gegen den Rassismus in den letzten Monaten besonders in den Vereinigten Staaten erlebt hat, ist es zweifellos eine mächtige Ressource, zu überdenken oder zu reflektieren, was wir meinen, wenn wir von der menschlichen Natur sprechen. Der erwähnte antirassistische Kampf ruft zur ‚Gleichheit in der Vielfalt‘ auf, also einer Wertschätzung der kulturellen und ethnischen Vielfalt innerhalb eines generellen Verständnisses der Gleichheit aller Menschen. In einfacheren Worten: Am Ende des Tages—unabhängig von unseren Unterschieden—teilen wir alle die gleichen Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen. Zweifelsohne ein wünschenswerter Gedanke. Für mich wirft er jedoch die Frage auf, ob wir—abgesehen von all unseren oberflächlichen Unterschieden—bestimmte Eigenschaften teilen, die für das, was wir als „menschliche Natur“ verstehen, wesentlich sind.
Philosophie und Wissenschaft haben versucht, diese erschöpfende Frage in einer Vielzahl von Ansätzen zu beantworten. Die Idee, dass Lebewesen und unbelebte Objekte (und es wird ziemlich kompliziert, wenn sich diese Kategorien in der modernen KI-Forschung überschneiden) gemeinsame kollektive Eigenschaften aufweisen, die sie zu einer Art oder Spezies machen, wird als Essentialismus bezeichnet. Natürlich ist es für mich als Feministin wichtig, das Konzept der Gleichheit aller Menschen zu befürworten—weshalb dieses Konzept allerdings nicht an den Essentialismus angelehnt ist, wird am Ende dieses Artikels hoffentlich verständlich.
Der Essentialismus und die Darwinsche Herausforderung
In seinem Artikel Menschliche Natur in einer post-essentiellen Welt (2013) versteht der belgische Logik- und Wissenschaftsphilosoph Grant Ramsey die Veröffentlichung von Charles Darwins Über die Entstehung der Arten (1859) als treibendes Werk, welches die essentialistische philosophische Tradition maßgeblich beeinflusst und verändert hat.
Ramsey argumentiert, dass zu Anbeginn der Philosophie Platons Formenlehre die Verpflichtung zu einer bestimmten Form und Konfiguration erforderte, durch welche die Dinge sui generis, einzigartig werden. In einfacheren Worten ist es laut Platon also so, dass ein Stein ist, weil er der ‚Form des Steines‘ entspricht. Es ist verführerisch, diese Logik auch auf Arten anzuwenden und den Anspruch zu erheben, dass wir uns unter anderen Arten als Menschen erkennen, weil wir einer menschlichen ‚Form‘ entsprechen.
Nachdem jedoch Über den Ursprung der Arten veröffentlicht wurde, stand der Essentialismus vor einer neuen Herausforderung. Wie Elisabeth A. Lloyd und Stephen J. Crowley in Essentialismus und menschliche Natur (2002) hervorheben, werden Arten unter Darwin „als sich ständig ändernde Abstammungslinien definiert“ und es ist von zentraler Bedeutung für seine Theorie, „dass jedes Mitglied einer Art ein Nachkomme eines oder mehrerer Mitglieder dieser Art sein muss, es sei denn, es ist das erste Mitglied einer Art“.
Es wird also deutlich, dass ein essentialistisches Denken der menschlichen Natur für Darwin inakzeptabel ist und, wie Ramsey argumentiert, „stattdessen ein Kontinuum von Variationen innerhalb der Arten besteht“. Maria Kronfeldner, Neil Roughley und Georg Toepfer zeigen in Neueste Arbeiten zur menschlichen Natur: Jenseits traditioneller Essenzen (2014), dass wir auch dann noch unverwechselbar menschlich sind, wenn wir nicht alle Merkmale teilen, die ein großer Prozentsatz der Mitglieder des ‚Homo Sapiens‘ aufweist (Kronfeldner, Roughley, Toepfer 643). Gute Beispiele finden sich in der Vielfalt menschlicher Identitäten. Diese sind maßgeblich von normativen Überzeugungen geprägt—beispielsweise einer Heteronormativität, Cisgeschlechtsnormativität oder normativen Vorstellungen eines gesunden Körpers und Geistes. Doch auch, wenn wir von der Norm abweichen, erkennen wir uns als ‚menschlich‘. Und es ist wichtig, dass wir das tun. Daher provoziert die darwinistische Herausforderung die traditionelle Philosophie, die ‚menschliche Natur‘ als Ganzes zu überdenken–oder vielleicht den Zusatz des Begriffes einer ‚Natur‘, der normative Ideen quasi legitimiert, ganz aufzugeben.
Der skeptische Einwand
Der Skeptiker spricht sich gegen die Idee eines festen Satzes gemeinsamer Merkmale in einer Spezies aus, weil er erkennt, dass insbesondere in der menschlichen Spezies nicht alle solche Merkmale in allen Mitgliedern dieser Art ausgedrückt werden. Die einzige annehmbare Essenz in der ‚menschlichen Natur‘ scheint ihr Hang zur Variation zu sein–dass sie sich ständig ändert, sich ständig weiterentwickelt, sich anpasst. Grant Ramsey fasst den Einwand des Skeptikers wie folgt zusammen:
„Die ‚menschliche Natur‘ muss intrinsische Merkmale herausgreifen, die von allen (und ausschließlich) Menschen vorgewiesen werden. Diese Reihe von Merkmalen muss für die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens endgültig und wesentlich sein, ebenso wie acht Protonen für Sauerstoff maßgeblich und wesentlich sind. Die Zugehörigkeit zum Homo sapiens wird jedoch wie die Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies nicht durch wesentliche Eigenschaften bestimmt, die jeder Einzelne teilt, sondern durch seine Position innerhalb einer Gruppe. Daher können solche wesentlichen Eigenschaften nicht endgültig für die Artenzugehörigkeit sein. Darüber hinaus ist es unwahrscheinlich, dass diese Eigenschaften von allen Homo sapiens aufgewiesen werden.“
(Grant Ramsey S. 984–985)
Die nomologische Sichtweise
Ramsey stellt die nomologische Sichtweise vor, die davon ausgeht, dass es eine Vielzahl wesentlicher menschlicher Merkmale geben könnte, die von den meisten Mitgliedern der Spezies vertreten werden und die Resultat von Evolution, Anpassung und Veränderung sind. Diese Merkmale werden eben von einem großen Prozentsatz der Speziesmitglieder ausgedrückt, sie sind jedoch nicht in allen Mitgliedern sichtbar. Die nomologische Sichtweise erklärt also, weshalb wir uns klar unter anderen Spezies als Mitglieder des Homo Sapiens wiedererkennen, und weshalb wir uns empathisch verstehen. Darüber hinaus rechtfertigt die nomologische Sichtweise die Existenz und Aufgabe der humanistischen Wissenschaften wie der Psychologie. Eine radikale Anti-Essentialistin könnte fragen, auf welcher Grundlage sich die Psychologie als Wissenschaft entwickeln konnte, wenn sie durch die Erfahrung mit und von vielen Patient*innen Wissen sammelt und ableitet. Die Psychologie selbst impliziert, dass es eine kollektive Reihe von Erfahrungen und Mustern geben muss, die für die menschliche Spezies einzigartig sind und gleichzeitig von vielen (aber nicht allen) Mitgliedern geteilt werden.
Menschen sind also wunderschön in ihrer Einzigartigkeit, in ihrer Diversität. Doch verlangt unser Anspruch an die Zukunft nicht, dass wir alle gleich sind?
Was bedeutet es also, zu sagen, dass wir alle anders, aber gleich sind? Und wie plädiert man für ein Konzept der radikalen demokratischen Gleichheit, wenn man die menschliche Vielfalt wertschätzt?
Von demokratischer Gleichheit sprechen wir im Rahmen der politischen Theorie. Im Gegensatz zum Essentialismus ist sie nicht von übergreifenden Merkmalen abhängig, die uns intrinsisch, also im Inneren, gleichmachen. Demokratische Gleichheit ist ein humanistisches Ideal, welches wir der menschlichen Natur als Gesellschaft extrinsisch, also von außen, zuweisen wollen. Einfacher gesagt bedeutet das schlicht, dass wir trotz unserer Unterschiede Anspruch auf gleiche Rechte, gleichen Respekt und gleiche Chancen haben.
Auch das Konzept der demokratischen Gleichheit ist ein politisches Ziel. Als solches arbeitet es gleichermaßen mit kulturellen und ethischen Narrativen wie aktuelle oder vergangene politische Systeme—beispielsweise Patriarchat, Kapitalismus oder Kolonialismus.
Werden solche Narrative mit weniger progressiven Absichten geschaffen, so werden sie schnell ein Instrument der Exklusion und der Unterdrückung marginalisierter Identitäten. Es ist also wichtig, zu wissen, wie man dysfunktionale Narrative erfolgreich dekonstruiert. Wir dürfen nicht den Fehler machen, anzunehmen, dass beispielsweise die Geschlechtszuschreibungen des Patriarchats oder die White Supremacy ein essentieller Teil der menschlichen Natur wären.
Der Essentialismus hat seine Vorteile, er ist aber mit äußerster Vorsicht zu genießen.
Ist der Essentialismus jetzt also radikal gut oder radikal schlecht? Nicht zu leugnen ist, dass die Annahme, dass wir bestimmte anatomische Merkmale oder kognitive, emotionale und sinnliche Erfahrungen teilen, durchaus nützlich ist, weil sich aus ihr nicht nur die Psychologie und die Medizin, sondern auch andere Wissenschaften entwickelt haben. Wenn die Medizin durch die Annahme gewisser anatomischer Veranlagungen mehr Menschen das Leben retten kann, ist das meistens gut—in anderen Fällen hingegen kann eine solche Voreingenommenheit jedoch auch ein Risiko darstellen. Werden essentialistische Annahmen jedoch als objektive Wahrheiten definiert, leiten sich aus ihnen Gesetze und Normen ab und schließen ihre Narrative marginalisierte Gruppen und Personen so aus, dass dadurch eine demokratische Gleichheit verhindert wird, dann ist das schlecht. Wenn also beispielsweise die Medizin die eigene Geschlechtsidentität diktiert, gibt es ein Problem.
Die Auseinandersetzung mit dem Essentialismus und einer Welt, in welcher wir mit essentialistischen Annahmen arbeiten, die an manchen Stellen funktional und an anderen dysfunktional agieren, erfordert nicht nur kritische Reflektion, sondern auch eine entsprechende Bildung, die eine solche Reflektion überhaupt erst ermöglicht.
Wir müssen also lehren, dass essentialistische Annahmen keine objektiven Wahrheiten sind, und dass wir ein Anrecht auf Liebe und Respekt, auf Rechte und Chancen, auf Selbstverwirklichung haben, ganz egal, wie wir nun beschaffen sind. Denn die einzige Essenz, die in der DNA unserer Spezies liegt, ist die Diversität—die Vielfalt.
Literaturverzeichnis:
Kronfeldner, Maria et al. Neuere Arbeiten zur menschlichen Natur: Jenseits traditioneller Essenzen. Philosophy Compass, vol. 9, no. 9, 2014, S. 642–652.
Lloyd, Elisabeth A und Stephen J Crowley. Essentialismus und menschliche Natur. Encyclopedia of Life Sciences, 2002.
Nussbaum, Martha C. Menschliche Funktionsweise und soziale Gerechtigkeit: Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. Politische Theorie, vol. 20, no. 2, Mai 1992, S. 202–246.
Ramsey, Grant. Die menschliche Natur in einer post-essentiellen Welt. Wissenschaftstheorie, vol. 80, no. 5, Dez. 2013, S. 983–993.
Ferrars & Fields Magazine
We are a Berlin based bilingual magazine featuring culture, politics and art.
Instagram: @ferrarsfieldsmag Twitter: @ferrarsfields