Lisa Hanawalts ‘Tuca & Bertie’: Ein Liebesbrief an Freundschaft und Soulsearching in unseren frühen 30ern

Titel­bild © 2021 Fer­rars & Fields Mag­a­zine, nach Tuca & Berties Orig­inaltitel­bild.

Text Mer­cy Fer­rars
Lek­torat Daniela Mertens

Wer sich in Bojack Horse­mans pastell­far­biges Hol­ly­wood, die kom­plexe Aufar­beitung von Still­stand und Depres­sion nach großem Ruhm und Raphael Bob-Waks­bergs fein­füh­lige Worte ver­liebt hat, find­et über kurz und lang auch zu Lisa Hanawalts Tuca & Bertie (Netflix/Adult Swim). In ihrer eige­nen Serie for­muliert die in Palo Alto geborene Kün­st­lerin einen Liebes­brief an unser dreißigjähriges Ich durch die bewe­gende Fre­und­schaft zwis­chen Tuca und Bertie, zwei äußerst gegen­sät­zlichen, aber gle­icher­maßen sen­si­blen Vogel­frauen. Sur­re­al, lustig und feinfühlig.

Ähn­lich wie bei Bojack Horse­man, wo Hanawalt als Pro­duk­tions­de­signer­in und Pro­duzentin mitwirk­te, sind die bedeu­tungsvollen Beziehun­gen in Tuca & Bertie so aus­geprägt und vielschichtig, dass sie sich authen­tisch und leben­snah anfühlen. Tuca und Bertie, die Hanawalt im New York­er als “Facetten [ihrer] Per­sön­lichkeit” beze­ich­net, erin­nern an Bojacks etwas weniger berühmte ent­fer­nte Cousi­nen. Hanawalts anthro­mor­phe Protagonist*innen und ihre fein­füh­li­gen Ani­ma­tio­nen ste­hen im Mit­telpunkt bei­der Serien. Bird­town, Tuca & Berties Schau­platz, wirkt gemütlich­er als Bojacks Hol­ly­woo — gle­ichzeit­ig wartet ihr filmis­ches Uni­ver­sum mit ein­er sur­realen Atmo­sphäre auf, in der die U‑Bahnen eigentlich Schlangen sind, die Sexwanzen-Boy­band eines Tukans kurz­er­hand in eine Gerichtsver­hand­lung in einem Super­markt involviert wird und eine Pflanze Bürgermeister*in wer­den kann. Tuca & Bertie fühlt sich leichter an als Bojacks hedo­nis­tis­ch­er und doch zutief­st depres­siv­er Nihilis­mus, beschäftigt sich aber den­noch mit Miss­brauch, Alko­holis­mus und Angstzuständen. 

Tuca and Bertie, Tuca and Bertie!

Die Fre­und­schaft zwis­chen Tuca und Bertie ist etwas ganz Beson­deres. Tuca, gesprochen von der Schaus­pielerin Tiffany Had­dish, ist eine extro­vertierte, pan­sex­uelle, kurvige Tukan, die keine Scheu hat, sich zu holen, was sie will. Ihr Zuhause hinge­gen ist gefüllt mit Überbleib­seln ihrer Sen­si­bil­ität, wie leeren Bech­ern voller unlieb­samer Gefüh­le, die in ein­er dun­klen Ecke ver­stauben. In ihren eige­nen Worten ist sie eine “Fre­undin, Heldin, Ken­ner­in von Snacks, selb­st­be­wusst und doch ver­lässlich, Trägerin kurz­er Hosen”.
Tuca ist eine gene­sene Alko­ho­lik­erin und die Beziehung zu ihrer Fam­i­lie ist kon­flik­tre­ich. Sie ist promiskuitiv, aber chro­nisch Sin­gle, und das bringt ein Gefühl der Abhängigkeit von ihrer besten Fre­undin Bertie mit sich. Und obwohl Tuca häu­fig verkün­det: “Ich liebe es, das dritte Rad am Wagen zu sein!”, weint sich die mutige Tukan nach ihrer Rück­kehr nach Hause häu­fig ein­sam in den Schlaf. Geprägt von trau­ri­gen Gefühlen, einem chao­tis­chen Leben und nervös­er Extro­vertiertheit ist sie überzeugt, “zu viel” zu sein, um liebenswert sein zu können.

Singdrossel Bertie (gesprochen von der Komik­erin Ali Wong) hinge­gen ist eine lei­den­schaftliche Bäck­erin und etwas weniger lei­den­schaftliche Date­n­an­a­lystin bei einem Mag­a­zin. Sie lebt mit ihrem Fre­und Speck­le (Steven Yeun) zusam­men und hat häu­fig mit Angstzustän­den und post­trau­ma­tis­ch­er Belas­tungsstörung zu kämpfen. Bertie ist Peo­ple Pleas­er und ver­lässt sich manch­mal auf Tuca, um ihre Gren­zen zu vertei­di­gen. Oft fühlt sie sich zwis­chen den Gezeit­en gefan­gen, wenn ihre Lei­den­schaft, ihr Trau­ma und ihre Beziehun­gen sie wie ein Boot auf stür­mis­ch­er See hin und her wer­fen — eine Meta­pher, die Hanawalt in S2E10, The Flood, auf liebevolle Weise visualisiert. 

“You’ve got a case of the Berties.”

Der Schreib­stil von Tuca & Bertie ist gle­icher­maßen lustig und nach­den­klich. Sowohl Tuca als auch Bertie fühlen sich nicht nur wie zwei Teile der Per­sön­lichkeit von Lisa Hanawalt an, son­dern auch wie meine eige­nen. In Bertie finde ich das uner­bit­tliche Peo­ple Pleas­ing, die Schuldge­füh­le und die Scham, wenn sie ihren eige­nen Erwartun­gen nicht gerecht wer­den kann — aber auch die Kraft, die sie empfind­et, wenn sie erken­nt, dass sie für sich selb­st existieren darf. Ich finde in ihr die Auflö­sung in tausend Teile, die ich auch in der Ther­a­pie gespürt habe, wenn sich die Beschäf­ti­gung mit den eige­nen trau­ma­tisierten Anteilen so anfühlt, als würde man auseinan­der­fall­en, obwohl man doch nur wieder zusam­mengek­lebt wer­den wollte. So wie man irgend­wie war, bevor das Leben passierte. Ich finde in Bertie meine Panikat­tack­en und meine Angst, die mir an manchen Tagen das Gefühl gibt, die Welt nicht mehr ertra­gen zu kön­nen. Aber ich finde in ihr auch großes Mit­ge­fühl, Loy­al­ität und eine erschreck­end gute Seele. 

Während ich mit Bertie etwas mehr verbinde als mit Tuca, repräsen­tiert Tuca den Teil von mir, der Schwierigkeit­en damit hat, zu ver­ste­hen, wie gesunde Beziehun­gen funk­tion­ieren. Den Teil, der draußen eine aus­ge­lassene Per­sön­lichkeit zur Schau stellt, um nach Hause zu kom­men, wo ihre unbeauf­sichtigten, ver­bote­nen Gefüh­le in Behäl­tern in ihrem Badez­im­mer ver­rot­ten. Sie spiegelt mein gele­gentlich­es extro­vertiertes Selb­stver­trauen, das ihre Unfähigkeit verdeckt, anderen zu zeigen, wer sie wirk­lich ist. Ihre tiefe Überzeu­gung, dass sie nicht liebenswert ist. Und obwohl Tuca zunächst wie die Fre­undin wirkt, die vor nichts Angst hat, lässt sie sich, als sie mit ihrer Fre­undin Kara eine Beziehung begin­nt, herum­schub­sen und klein machen, um das Gefühl zu haben, Karas Liebe zu verdienen. 

Die Fre­und­schaft von Tuca und Bertie durch­läuft Höhen und Tiefen, die nachvol­lziehbar sind und uns den echt­en Schmerz spüren lassen, wenn wir uns mit unseren besten Freund*innen langsam auseinanderleben. 

Lisa Hanawalts Kunst des Sensiblen

Aber da Hanawalt ihre Geschicht­en mit Hil­fe von Bildern erzählt, ist die Art und Weise, wie sie diese Geschicht­en in Bilder ein­webt, das, was ihre Show wirk­lich einzi­gar­tig macht. Hin­weise auf ihre Hand­schrift gab es auch in Bojack, wo sie Nah­toder­fahrun­gen visu­al­isierte (The View from Halfway Down), Zeitlin­ien von Bojacks Trau­ma ineinan­der überge­hen ließ, oder den Großteil von Dia­log und Geräuschkulisse ent­fer­nte (Fish Out of Water), was der Serie in ihrer son­st so laut­en und bun­ten Umge­bung einen fast kirch­lichen und med­i­ta­tiv­en Touch ver­lieh. In Tuca & Bertie set­zt Hanawalt ihre kreativ­en Ani­ma­tion­stech­niken voll ein, um schwere Szenen auf eine fass­bare, jen­seit­ige Weise zu visu­al­isieren und so die Aufmerk­samkeit des Pub­likums voll und ganz in Anspruch zu nehmen und es in etwas einzubeziehen, das sich wie eine sehr intime, nahe Begeg­nung mit den Gezeit­en emo­tionaler Kom­plex­ität anfühlt. 

Ein solch­es Beispiel find­et sich in ein­er der let­zten Episo­den der ersten Staffel, als Bertie in Jel­ly Lakes ihre Geschichte des sex­uellen Miss­brauchs mit Tuca teilt. Während sie von ihrer Ver­gan­gen­heit erzählt, ver­wan­delt sich ihre 3D-Welt in 2D-Papier­auss­chnitte, und erneut reduziert sich der Ton auf Berties Monolog und ein Sum­men in der Luft. Während sie sich ihrem Trau­ma stellt, begeg­net sie ihrem jün­geren Ich, das weinend im Wald ste­ht. Die bei­den Berties — die eine in 2D und die andere in 3D — umar­men sich, vollführen ein paar Unter­wass­er-Saltos und die 3D-Bertie kehrt an die Ober­fläche zurück, wo sie ver­sucht, zu ein­er Insel zu schwim­men, die sie an ihr Trau­ma erinnert. 

Eine Szene der zweit­en Staffel, die so ein­prägsam war, dass sie immer noch in den sozialen Medi­en die Runde macht, ist ein Tanz zwis­chen Bertie und Tuca, nach­dem Tuca in einen Stre­it mit ihrer Fre­undin Kara ger­at­en ist. Kara ist davon überzeugt, dass Tuca zu laut, zu frech, zu rechthaberisch, zu alles ist. Nach­dem Bertie beobachtet hat, wie Tuca immer wieder aufge­fordert wird, sich klein­er zu machen, damit sie für Kara liebenswert ist, nimmt sie sie bei der Hand und tanzt mit ihr. In schö­nen Skizzen vor ein­far­bigem Hin­ter­grund nimmt eine riesige Kara zu viel Platz für eine winzige Tuca ein und ver­sucht, sie zu zäh­men, wenn sie größer wird, bis sie nur noch eine winzige Mar­i­onette ist, die an Karas Hand hängt. Das ist der Moment, in dem sich Rot in Dunkel­blau ver­wan­delt und Bertie here­in­marschiert, Kara ver­scheucht, Tucas Hand nimmt und mit ihr — eben­bür­tig — fröh­lich tanzt. Schließlich bekommt Kara sie wieder zu fassen und ver­schluckt sie ganz. In diesem Moment kehren die Geschichte und das Bild zur Hand­lung zurück, wo sich die Pro­tag­o­nis­ten auf dem jährlichen Rum­mel befinden.

Vor allen Din­gen aber ist Tuca & Bertie voll von ein­er Welt, Pro­tag­o­nis­ten und ein­er Geschichte, die mit Humor, Liebe und großer Aufmerk­samkeit erzählt wird. Voller Kuriositäten und einem reich­lich kreativ­en World­build­ing, das weit über Bertie, Tuca und ihre Fre­unde im kleinen Bird­town hin­aus­ge­ht. In Tuca und Bertie habe ich mich sehr schnell ver­liebt, und es ist ein absolutes Muss für jede*n Liebhaber*in von Bojack Horse­man — obwohl Tuca & Bertie mehr als in der Lage sind, jede*n zu fes­seln, der das Glück hat, sie ganz für sich allein zu finden. 


Tuca & Bertie wird auf Net­flix (Staffel 1) und Adult Swim (Staffel 2 und fol­gende) gestreamt. 
2019 — 2021 von Lisa Hanawalt & Jesse Novak mit den Stim­men von Tiffany Hadish, Ali Wong und Steven Yeun.

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