
Text Mercy Ferrars
Lektorat Daniela Mertens
Wer sich in Bojack Horsemans pastellfarbiges Hollywood, die komplexe Aufarbeitung von Stillstand und Depression nach großem Ruhm und Raphael Bob-Waksbergs feinfühlige Worte verliebt hat, findet über kurz und lang auch zu Lisa Hanawalts Tuca & Bertie (Netflix/Adult Swim). In ihrer eigenen Serie formuliert die in Palo Alto geborene Künstlerin einen Liebesbrief an unser dreißigjähriges Ich durch die bewegende Freundschaft zwischen Tuca und Bertie, zwei äußerst gegensätzlichen, aber gleichermaßen sensiblen Vogelfrauen. Surreal, lustig und feinfühlig.
Ähnlich wie bei Bojack Horseman, wo Hanawalt als Produktionsdesignerin und Produzentin mitwirkte, sind die bedeutungsvollen Beziehungen in Tuca & Bertie so ausgeprägt und vielschichtig, dass sie sich authentisch und lebensnah anfühlen. Tuca und Bertie, die Hanawalt im New Yorker als “Facetten [ihrer] Persönlichkeit” bezeichnet, erinnern an Bojacks etwas weniger berühmte entfernte Cousinen. Hanawalts anthromorphe Protagonist*innen und ihre feinfühligen Animationen stehen im Mittelpunkt beider Serien. Birdtown, Tuca & Berties Schauplatz, wirkt gemütlicher als Bojacks Hollywoo — gleichzeitig wartet ihr filmisches Universum mit einer surrealen Atmosphäre auf, in der die U‑Bahnen eigentlich Schlangen sind, die Sexwanzen-Boyband eines Tukans kurzerhand in eine Gerichtsverhandlung in einem Supermarkt involviert wird und eine Pflanze Bürgermeister*in werden kann. Tuca & Bertie fühlt sich leichter an als Bojacks hedonistischer und doch zutiefst depressiver Nihilismus, beschäftigt sich aber dennoch mit Missbrauch, Alkoholismus und Angstzuständen.
Tuca and Bertie, Tuca and Bertie!
Die Freundschaft zwischen Tuca und Bertie ist etwas ganz Besonderes. Tuca, gesprochen von der Schauspielerin Tiffany Haddish, ist eine extrovertierte, pansexuelle, kurvige Tukan, die keine Scheu hat, sich zu holen, was sie will. Ihr Zuhause hingegen ist gefüllt mit Überbleibseln ihrer Sensibilität, wie leeren Bechern voller unliebsamer Gefühle, die in einer dunklen Ecke verstauben. In ihren eigenen Worten ist sie eine “Freundin, Heldin, Kennerin von Snacks, selbstbewusst und doch verlässlich, Trägerin kurzer Hosen”.
Tuca ist eine genesene Alkoholikerin und die Beziehung zu ihrer Familie ist konfliktreich. Sie ist promiskuitiv, aber chronisch Single, und das bringt ein Gefühl der Abhängigkeit von ihrer besten Freundin Bertie mit sich. Und obwohl Tuca häufig verkündet: “Ich liebe es, das dritte Rad am Wagen zu sein!”, weint sich die mutige Tukan nach ihrer Rückkehr nach Hause häufig einsam in den Schlaf. Geprägt von traurigen Gefühlen, einem chaotischen Leben und nervöser Extrovertiertheit ist sie überzeugt, “zu viel” zu sein, um liebenswert sein zu können.
Singdrossel Bertie (gesprochen von der Komikerin Ali Wong) hingegen ist eine leidenschaftliche Bäckerin und etwas weniger leidenschaftliche Datenanalystin bei einem Magazin. Sie lebt mit ihrem Freund Speckle (Steven Yeun) zusammen und hat häufig mit Angstzuständen und posttraumatischer Belastungsstörung zu kämpfen. Bertie ist People Pleaser und verlässt sich manchmal auf Tuca, um ihre Grenzen zu verteidigen. Oft fühlt sie sich zwischen den Gezeiten gefangen, wenn ihre Leidenschaft, ihr Trauma und ihre Beziehungen sie wie ein Boot auf stürmischer See hin und her werfen — eine Metapher, die Hanawalt in S2E10, The Flood, auf liebevolle Weise visualisiert.
“You’ve got a case of the Berties.”
Der Schreibstil von Tuca & Bertie ist gleichermaßen lustig und nachdenklich. Sowohl Tuca als auch Bertie fühlen sich nicht nur wie zwei Teile der Persönlichkeit von Lisa Hanawalt an, sondern auch wie meine eigenen. In Bertie finde ich das unerbittliche People Pleasing, die Schuldgefühle und die Scham, wenn sie ihren eigenen Erwartungen nicht gerecht werden kann — aber auch die Kraft, die sie empfindet, wenn sie erkennt, dass sie für sich selbst existieren darf. Ich finde in ihr die Auflösung in tausend Teile, die ich auch in der Therapie gespürt habe, wenn sich die Beschäftigung mit den eigenen traumatisierten Anteilen so anfühlt, als würde man auseinanderfallen, obwohl man doch nur wieder zusammengeklebt werden wollte. So wie man irgendwie war, bevor das Leben passierte. Ich finde in Bertie meine Panikattacken und meine Angst, die mir an manchen Tagen das Gefühl gibt, die Welt nicht mehr ertragen zu können. Aber ich finde in ihr auch großes Mitgefühl, Loyalität und eine erschreckend gute Seele.
Während ich mit Bertie etwas mehr verbinde als mit Tuca, repräsentiert Tuca den Teil von mir, der Schwierigkeiten damit hat, zu verstehen, wie gesunde Beziehungen funktionieren. Den Teil, der draußen eine ausgelassene Persönlichkeit zur Schau stellt, um nach Hause zu kommen, wo ihre unbeaufsichtigten, verbotenen Gefühle in Behältern in ihrem Badezimmer verrotten. Sie spiegelt mein gelegentliches extrovertiertes Selbstvertrauen, das ihre Unfähigkeit verdeckt, anderen zu zeigen, wer sie wirklich ist. Ihre tiefe Überzeugung, dass sie nicht liebenswert ist. Und obwohl Tuca zunächst wie die Freundin wirkt, die vor nichts Angst hat, lässt sie sich, als sie mit ihrer Freundin Kara eine Beziehung beginnt, herumschubsen und klein machen, um das Gefühl zu haben, Karas Liebe zu verdienen.
Die Freundschaft von Tuca und Bertie durchläuft Höhen und Tiefen, die nachvollziehbar sind und uns den echten Schmerz spüren lassen, wenn wir uns mit unseren besten Freund*innen langsam auseinanderleben.
Lisa Hanawalts Kunst des Sensiblen
Aber da Hanawalt ihre Geschichten mit Hilfe von Bildern erzählt, ist die Art und Weise, wie sie diese Geschichten in Bilder einwebt, das, was ihre Show wirklich einzigartig macht. Hinweise auf ihre Handschrift gab es auch in Bojack, wo sie Nahtoderfahrungen visualisierte (The View from Halfway Down), Zeitlinien von Bojacks Trauma ineinander übergehen ließ, oder den Großteil von Dialog und Geräuschkulisse entfernte (Fish Out of Water), was der Serie in ihrer sonst so lauten und bunten Umgebung einen fast kirchlichen und meditativen Touch verlieh. In Tuca & Bertie setzt Hanawalt ihre kreativen Animationstechniken voll ein, um schwere Szenen auf eine fassbare, jenseitige Weise zu visualisieren und so die Aufmerksamkeit des Publikums voll und ganz in Anspruch zu nehmen und es in etwas einzubeziehen, das sich wie eine sehr intime, nahe Begegnung mit den Gezeiten emotionaler Komplexität anfühlt.
Ein solches Beispiel findet sich in einer der letzten Episoden der ersten Staffel, als Bertie in Jelly Lakes ihre Geschichte des sexuellen Missbrauchs mit Tuca teilt. Während sie von ihrer Vergangenheit erzählt, verwandelt sich ihre 3D-Welt in 2D-Papierausschnitte, und erneut reduziert sich der Ton auf Berties Monolog und ein Summen in der Luft. Während sie sich ihrem Trauma stellt, begegnet sie ihrem jüngeren Ich, das weinend im Wald steht. Die beiden Berties — die eine in 2D und die andere in 3D — umarmen sich, vollführen ein paar Unterwasser-Saltos und die 3D-Bertie kehrt an die Oberfläche zurück, wo sie versucht, zu einer Insel zu schwimmen, die sie an ihr Trauma erinnert.
Eine Szene der zweiten Staffel, die so einprägsam war, dass sie immer noch in den sozialen Medien die Runde macht, ist ein Tanz zwischen Bertie und Tuca, nachdem Tuca in einen Streit mit ihrer Freundin Kara geraten ist. Kara ist davon überzeugt, dass Tuca zu laut, zu frech, zu rechthaberisch, zu alles ist. Nachdem Bertie beobachtet hat, wie Tuca immer wieder aufgefordert wird, sich kleiner zu machen, damit sie für Kara liebenswert ist, nimmt sie sie bei der Hand und tanzt mit ihr. In schönen Skizzen vor einfarbigem Hintergrund nimmt eine riesige Kara zu viel Platz für eine winzige Tuca ein und versucht, sie zu zähmen, wenn sie größer wird, bis sie nur noch eine winzige Marionette ist, die an Karas Hand hängt. Das ist der Moment, in dem sich Rot in Dunkelblau verwandelt und Bertie hereinmarschiert, Kara verscheucht, Tucas Hand nimmt und mit ihr — ebenbürtig — fröhlich tanzt. Schließlich bekommt Kara sie wieder zu fassen und verschluckt sie ganz. In diesem Moment kehren die Geschichte und das Bild zur Handlung zurück, wo sich die Protagonisten auf dem jährlichen Rummel befinden.
Vor allen Dingen aber ist Tuca & Bertie voll von einer Welt, Protagonisten und einer Geschichte, die mit Humor, Liebe und großer Aufmerksamkeit erzählt wird. Voller Kuriositäten und einem reichlich kreativen Worldbuilding, das weit über Bertie, Tuca und ihre Freunde im kleinen Birdtown hinausgeht. In Tuca und Bertie habe ich mich sehr schnell verliebt, und es ist ein absolutes Muss für jede*n Liebhaber*in von Bojack Horseman — obwohl Tuca & Bertie mehr als in der Lage sind, jede*n zu fesseln, der das Glück hat, sie ganz für sich allein zu finden.
Tuca & Bertie wird auf Netflix (Staffel 1) und Adult Swim (Staffel 2 und folgende) gestreamt.
2019 — 2021 von Lisa Hanawalt & Jesse Novak mit den Stimmen von Tiffany Hadish, Ali Wong und Steven Yeun.
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