von Ralph Mönius
“My work has always been about judging the distance between the American dream and the American reality”, sagt Bruce Springsteen in seiner 2016 erschienenen Autobiographie Born to Run. So groß wie jetzt war diese Distanz dann wohl noch nie. Zumindest zur Zeit von Springsteens Schaffen, was inzwischen mehr als 50 Jahre sind.
19 Studioalben sind in diesen fünf Jahrzehnten entstanden, und das aktuelle heißt nun eben Western Stars. Es ist ein komplexes Werk geworden, eines das sich Zeit nimmt für seine Charaktere—die Arbeiter, die Vagabunden, die Vergessenen—und das deren intime Geschichten auf die große Leinwand holt, sie zu ebenjenen großen Stars des Westens macht und damit letzten Endes ein tiefes politisches Statement abgibt.
Es ist ein komplexes Werk geworden, eines das sich Zeit nimmt für seine Charaktere—die Arbeiter, die Vagabunden, die Vergessenen—und das deren intime Geschichten auf die große Leinwand holt.
Die Vergangenheit heraufzubeschwören, ohne sie dabei zu verklären, ist ein kompliziertes Unterfangen, das Springsteen hier mit Bravour gelingt. Für dieses Kunststück lässt er den großen Stadionrock, sein Markenzeichen, und auch seine legendäre E‑Street-Band außen vor, und taucht ein in den Sound der Pop-Balladen der späten 60er und frühen 70er, den er mit Einflüssen aus der Filmmusik anreichert, wofür er sich zum ersten Mal in seiner Karriere ein ganzes Orchester ins Studio holt. Somit wird jeder der 13 Songs zu einem eigenen kleinen Film. Nur sind die Hauptfiguren dieser Filme keine großen Westernhelden, keine überdimensionalen, Mensch gewordenen Mythen, sondern einfache, abgehängte Leute aus dem heutigen Amerika. Noch am nächsten an einen Helden herangekommen ist der Protagonist des Titelsongs: ein alter, abgehalfterter Western-Schauspieler, der jedem, der ihm einen Drink ausgibt, die Geschichte davon erzählt, wie er einmal von John Wayne erschossen wurde.
Erzählerisch ist das Album also klassischster Springsteen, in der Tradition von Alben wie Nebraska oder The Ghost of Tom Joad. Es geht um die Ränder der Gesellschaft, die einfachen Leute. Sie sind es, die nach Bruce’ Meinung unsere Aufmerksamkeit verdient haben, nicht die großen Helden, nicht die großen Bösewichte, sondern Figuren wie der Protagonist des Songs Tucson Train, der seine große Liebe zurück lässt, um in einer neuen Stadt endlich sein Leben in den Griff zu bekommen, ohne Drogen und Depressionen, der schließlich als Kranführer arbeitet und jeden Abend am Bahnhof wartet, ob seine Liebste, für die er sich jetzt endlich gut genug fühlt, nicht doch noch zu ihm zurückkommt.
Es geht um die Ränder der Gesellschaft, die einfachen Leute. Sie sind es, die nach Bruce’ Meinung unsere Aufmerksamkeit verdient haben.
Und so ist das Album immer da am stärksten, wo Springsteen in seinem einzigartigen sprachlichen Mix aus klaren, eindringlichen Bildern und herzhaftem Pathos mit viel Liebe von seinen Figuren erzählt. Genauso wird schon beim ersten Hören klar, dass dieser Mann, mit all der Erfahrung, die er aus seiner langen Karriere mitbringt, wohl keinen schlechten Song mehr schreiben wird. Das Problem von Western Stars liegt eher im Sound, in den sich das Album kleidet. Der gerät an vielen Stellen etwas zu glatt und gerade der Einsatz des Orchesters ist immer wieder zu stark. Songs wie Chasin’ Wild Horses, Stones oder Sundown werden von den vielen Streichern geradezu erdrückt, während das poppige There Goes My Miracle mit seiner riesigen Hook komplett aus dem Rahmen des Albums fällt, in sich jedoch trotzdem funktioniert.
Die großen Momente entstehen jedoch, wenn sich Produzent Ron Aniello mit der Orchestrierung zurück hält und diese nur unterstützend einsetzt. Dann nämlich fokussiert sich alles auf die Springsteen’sche Performance und das bringt uns Perlen wie den Opener Hitch Hikin’, den hoffnungsvollen Track The Wayfarer und den großartigen Titelsong Western Stars.
Seine besten Songs spart sich Springsteen jedoch für das Ende auf. Im bezaubernd leichtfüßigen Hello Sunshine geht es um einen Mann, der dem Glück immer hinterher zu reisen scheint, es jedoch niemals festhalten kann. Ob dies eine Verarbeitung von Bruces in seiner Autobiografie immer wieder beschriebenen Depressionen ist oder ein Kommentar auf Amerika oder vielleicht sogar die ganze Menschheit, kann sich jeder selbst aussuchen. Am Ende führt der Weg in jedem Fall ins Moonlight Motel, einen vergessenen, verfallenden Ort mit einer tief melancholischen Magie, der genauso immer mehr verschwindet wie seine Besucher, die Charaktere, die dieses wunderbar komplexe Album bevölkern, die voller Stärken und Schwächen sind, wie das Werk selbst. Die Sterne des Westens erlöschen langsam, erinnert uns Springsteen, und wenn sie weg sind wird die Nacht sehr, sehr dunkel.
“Western Stars” von Bruce Springsteen erschien am 14. Juni 2019 unter Columbia Records.
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